Zweyer, Jan - Rainer
schütteten mehrere Kanister Benzin über die leblose Menge und zündeten sie an. Die verzweifelten Schmerzensschreie der Verwundeten und nun zum Feuertod Verdammten werde ich nie vergessen.« Rastevkow schwieg. Dann fuhr er fort: »Zum Schluss setzten die Soldaten das Dorf in Brand. Jedes Haus, jeden Stall. In nur einigen Minuten war die mir bekannte Welt vom Erdboden vertilgt worden. Meine Großeltern, meine Mutter, meine kleine Schwester. Unser Haus. Die Nachbarn.
Einfach alles, was ich kannte.« Rastevkow blickte an Esch vorbei ins Leere. Tränen liefen über sein Gesicht.
»Könnte ich«, fragte Esch mit gebrochener Stimme, »könnte ich doch noch von dem Wodka…?«
Rastevkow reichte ihm die Flasche. »Und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Ich weiß bis heute nicht, warum unser Dorf ausgelöscht wurde. Ich versuche, einen Sinn zu erkennen, und sei er auch noch so teuflisch und grausam. Irgendeinen Sinn, irgendetwas, was das hundertfache Sterben erklärlich macht, es der Zufälligkeit entreißt. Ich werde es wohl nie begreifen.«
Esch fror in seiner Lederjacke, aber es war ihm egal. Er verspürte Mitleid mit diesem Mann, den er erst seit kurzer Zeit kannte. Mitleid und ohnmächtige Wut.
»In Kiew wurden wir nach zehnstündiger Fahrt vom Wagen in einen Zug verladen. Einer meiner Freunde war auf der Ladefläche gestorben, ich weiß nicht, woran. Wir anderen wurden mit Gewehrkolben geschlagen, wie Vieh in einen Wagon gepfercht, der sonst für Tiertransporte genutzt wurde.
Wir erhielten einen Eimer Wasser und etwas verschimmeltes Brot, mehr nicht. Das Wasser reichte kaum für uns alle. Unsere Notdurft verrichteten wir später in diesem Eimer, der aber schnell überlief. Ich weiß nicht, wie ich die fünftägige Fahrt überstand. Ohne Essen und fast ohne Wasser. Als die Türen des Wagons endlich wieder aufgerissen wurden und wir aussteigen durften, mussten wir uns in einer Reihe aufstellen.
Die Luft war staubig und roch nach Kohle. Vorsichtig sah ich mich um. Ich erkannte gigantische Türme, an deren Spitze sich unaufhörlich Räder drehten, das Schachtgerüst eines Bergwerkes, wie ich heute weiß. Das der Zeche Erin in Castrop-Rauxel. Wir wurden in einer in der Nähe stehenden Baracke registriert und erhielten eine Jacke, auf der ein weißes Dreieck aufgenäht war. Ost stand auf dem Dreieck. Ost für Ostarbeiter. Ich war als Bauernbursche aus Wolhynien verschleppt worden und als Bergmann in Castrop angekommen.«
»Aber was hat das alles mit Georg Pawlitsch…«
»… zu tun, wollen Sie wissen? Warten Sie es ab. Die Arbeit auf dem Bergwerk war hart und gefährlich und die Ernährung dürftig. Trotzdem reichte es, um zu überleben. Wir waren anfangs in einem Lager in der Nähe der Zeche untergebracht worden, der Anblick unserer zerlumpten Gestalten, die in bewachten Kolonnen auf dem Weg zur oder von der Arbeit durch die Straßen schlurften, führte bei einem Teil der Bevölkerung zu Protesten. Daher erschien es den Verantwortlichen zweckmäßiger, uns Arbeitssklaven gleich auf dem Zechengelände unterzubringen. So war der Weg zur Arbeit nicht so weit und unser Anblick konnte niemanden mehr belästigen. Wir arbeiteten an sechs Tagen in der Woche täglich sechzehn Stunden. Wer sich weigerte, schlechte Arbeitsleistung erbrachte oder krank wurde, wanderte ins KZ, die meisten nach Auschwitz. Erkannte Saboteure, und die gab es auch unter den Zwangsarbeitern, wurden zur Abschreckung vor unseren Augen erschossen oder aufgehängt. An Drahtschlingen aufgehängt! Die Bedauernswerten wurden langsam mit der Drahtschlinge um den Hals hochgezogen. Ein grausamer Tod! Als die Bombenangriffe der Alliierten immer heftiger wurden, mussten die Arbeiten häufiger unterbrochen werden. Wer gerade unter Tage war, hatte Glück: Eintausend Meter Granit oder Sandstein sind ein zuverlässiger Schutz vor Brand-und Splitterbomben. Hatten wir jedoch unsere Ruhephasen… Einen Bunker gab es nicht für uns. Unsere Vorarbeiter waren ausnahmslos Deutsche, erfahrene Bergleute.
Einer von ihnen, Jupp genannt, steckte uns immer mal wieder ein Stück Brot oder eine Zwiebel zu. Er tat das unter Lebensgefahr. Vom Volksgerichtshof sind viele für geringere Vergehen unter das Fallbeil geschickt worden. An einem Abend im März 1945 wurden einige von uns, auch ich, bei Aufräumungsarbeiten im Bereich der übertägigen Verladeeinrichtungen eingesetzt. Wir waren gerade damit beschäftigt, Staubkohle in die Wagons zu schaufeln, als das auf-und
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