Zweyer, Jan - Rainer
Wenn Sie ein paar Minuten auf dem Flur warten wollen…« Sie beugte sich über ihre Akten und sah schlagartig ungemein beschäftigt aus.
Rainer schloss daraus, dass ihr Gespräch beendet war.
»Danke«, sagte er. »Reizend von Ihnen.«
Der Flur vor den Büros des Stadtarchivs war genauso anheimelnd wie der Rest des Gebäudes. Weiß gekalkte Wände, gelbe Stahltüren, blaugraue Betonfarbe auf dem Boden. Eine Sitzgelegenheit war weit und breit nicht zu sehen. Auch ein Aschenbecher nicht. Esch schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach zehn. Die Kollegin Kremlik machte wahrscheinlich gerade Frühstückspause.
Nach zwanzigminütiger Wartezeit wagte er einen erneuten Vorstoß. »Sagen Sie, braucht Ihre Kollegin noch lange?«
»Keine Ahnung. Sie kommt aber sicher gleich.«
Rainer befriedigte diese Auskunft nicht besonders, entschied sich aber dann doch, geduldig weiter zu warten.
Weitere fünf Minuten später näherte sich eine junge Frau und betrat das Zimmer, vor dem Rainer sich die Füße in den Bauch stand.
»Der da draußen will irgendwas über Tageszeitungen wissen«, hörte Esch.
»Gleich. Ich muss eben Stefan anrufen.«
Nachdem sich Kollegin Kremlik ausgiebig mit Stefan über Christa und Manfred ausgetauscht hatte, steckte sie den Kopf durch die Tür und fragte Rainer: »Bitte?«
»Ich möchte einen Blick in die Tageszeitungen werfen, die in Castrop Anfang der 50er-Jahre erschienen sind.«
»Wann? Jetzt?« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass sie Eschs Anliegen für eine Zumutung hielt.
»Wenn es möglich ist, bitte.«
Kollegin Kremlik seufzte. »Das nimmt ja in letzter Zeit überhand. Kommen Sie.«
Sie führte Rainer in ein Zimmer, das ihn an den Gesprächsraum in der JVA Krümmede erinnerte.
»Welche Zeitung wollen Sie denn?«
»Alle.«
»Alle?«
»Alle!«
»Und welcher Jahrgang und Monat?«
»Das weiß ich nicht. Fangen wir mit 1950 an und dann die folgenden.«
»Das ganze Jahr?«
»Richtig.«
»Die folgenden auch?«
»Ja.«
Kollegin Kremlik verzog ihr Gesicht. »Die kann ich aber nicht auf einmal bringen. Die Bände sind zu schwer.« Sie bemühte sich nicht zu verbergen, dass sie Esch für völlig übergeschnappt und ausgesprochen lästig hielt.
»Dann eben nacheinander.«
Empört rauschte sie aus dem Raum und ließ Rainer allein.
Zehn Minuten später schleppte sie einen Stapel gebundener Tageszeitungen in den Raum und ließ die Bände mit einem wütenden Krachen auf den Tisch fallen. Eine Staubwolke hüllte Rainer ein. Er fürchtete um die Funktionsfähigkeit seiner Lunge.
Der Anwalt schnappte sich den ersten Band und begann, die Lokalseiten durchzublättern, auf der Suche nach einem Foto, auf das die Beschreibung Pjotr Rastevkows zutraf.
Kollegin Kremlik schaffte inzwischen Band für Band heran, so dass Rainer nach einiger Zeit hinter einer Zeitungswand saß.
»Das waren alle bis 1952«, stöhnte Kollegin Kremlik. »Wenn Sie fertig sind, sagen Sie Bescheid.«
»Danke. Darf ich hier rauchen?«
»Nee, rauchen ist nicht. Ich gehe jetzt.« Damit verschwand die Frau.
Nach fast zwei Stunden hatte Rainer die Nase gestrichen voll.
Er mochte keine Bilder von Stadtoberhäuptern bei der Einweihung der soundsovielten öffentlichen Einrichtung, von Jahreshauptversammlungen der diversen Kleingarten-und Kaninchenzüchtervereine oder lokalen Parteitagen mehr sehen.
Rainer fragte sich, ob er wirklich auf der richtigen Spur war.
Plötzlich stutzte er. Was hatte die Kremlik vorhin gesagt? Das nimmt ja in letzter Zeit Überhand. Esch stürzte aus dem Raum und betrat wieder das Büro.
»Fertig?«, wollte Kollegin Kremlik wissen.
»Nein. Sagen Sie, war vor einiger Zeit schon jemand hier, um Zeitungen aus diesen Jahren durchzusehen?«
»Ja, vor etwa drei, vier Wochen.«
»Ein älterer Herr?«
»Genau. Aber warum…?«
Esch antwortete ihr nicht, sondern stürmte zurück und widmete sich wieder voller Energie seiner Suche.
In der Ausgabe der WAZ vom 5. September 1951 schließlich wurde er fündig. Unter der Überschrift Bildungspolitischer Ausschuss der Zentrumspartei in Volksschule Rauxel berichtete die Lokalredaktion über einen Besuch der Lokalpolitiker in der Schule. Esch überflog den Text. Völlig uninteressant.
Dann sah er sich das nebenstehende Foto genauer an. Auf einer Treppe vor einem Gebäudeeingang stand eine Gruppe Männer. Über dem Eingang war ein Schriftzug, der leider zur Hälfte entweder der Motivauswahl des Fotografen oder der Schere des
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