Zweyer, Jan - Rainer
Linkshänder. Und hat die Knarre in der Rechten.«
»Also kein Familiendrama?«
»Sieht nicht so aus.«
»Es gibt noch etwas.« Baumann hielt seinem Chef den Aktenordner hin. »Der alte Störmer war bis zu seiner Pensionierung auf Erin beschäftigt, in Castrop-Rauxel.«
»Ach du Scheiße. Noch ein ermordeter Bergmannsrentner also. Zahlt die Knappschaft Prämien, oder was? Vier Opfer einer Gewalttat in nur zwei Wochen! Das ist selbst für die brausende Metropole Recklinghausen zu viel.«
27
Das Rathaus in Castrop, direkt neben Europa-und Stadthalle gelegen, ähnelte mehr einem Hochsicherheitstrakt als dem Sitz einer demokratisch legitimierten Verwaltung. Die Wandöffnungen glichen Schießscharten und waren erst beim zweiten Hinsehen als Fenster zu erkennen. Von der Straßenseite führten dunkle Tiefgarageneinfahrten in das Gebäude, ein Haupteingang war nicht zu entdecken. Ratlos fuhr Rainer die Straße mehrmals auf und ab, bis er sich entschloss, seinen Mazda in dem Parkhaus abzustellen und sein Glück zu Fuß zu versuchen.
Er parkte in der Nähe eines Schildes mit der Aufschrift: Eingang. Im Parkhaus roch es muffig und feucht und Rainer meinte, den Gestank von Urin wahrzunehmen. Neben dem Eingangsschild war eine Tafel angebracht, die den Bürgern Castrop-Rauxels die Orientierung in dem Haus, in dem ihre Ratsvertreter saßen, erleichtern sollte, bei Esch jedoch für völlige Konfusion sorgte. Die Hinweistafel besagte, dass sich das Stadtarchiv in den Räumen 61 bis 69 im gelb unterlegten Eingang D im Untergeschoss befand. Er aber stand in einem schummrigen und stinkenden Parkhaus vor einer Tür, die wer weiß wohin führte. Wo, zum Teufel, befand sich dieser gelbe Eingang D?
Rainer stiefelte durch die Tür in einen Flur, der durch eine Funzel an der Decke mehr schlecht als recht beleuchtet wurde, und erreichte schließlich ein Treppenhaus, dessen Lichtquelle tatsächlich die Bezeichnung Lampe verdiente. Esch stieg die Stufen hoch, um festzustellen, dass er keine Chancen hatte herauszufinden, wo er hinmusste. Im Treppenhaus hielt sich keine Menschenseele auf und die Glastüren links und rechts führten zu Gängen, die sich ebenfalls durch gähnende Leere auszeichneten.
Rainer war verwundert. Das hatte er sich anders vorgestellt.
Nach seinen Erfahrungen in anderen Stadtverwaltungen des Ruhrgebiets durchstreiften solche Gebäude üblicherweise größere Menschenmassen. Von denen wusste zwar auch kaum einer, wo die gesuchte Dienststelle ihren Sitz hatte, sie befanden sich aber wenigstens in Gesellschaft. Hier war das anders. Entweder hatten die Bürger Castrops keine Probleme –
was sich Rainer nicht vorstellen konnte –, oder sie hielten sich aus anderen Gründen fern von der Fabrikhalle, die sich Rathaus nannte. Das konnte sich der Anwalt schon eher vorstellen.
Einem angebrachten Hinweisschild, ähnlich dem im Parkhaus, entnahm Rainer – Sie befinden sich hier! –, dass er sich im Aufgang A – Blau! – aufhielt. D lag am anderen Ende des Schießschartengebäudes.
Das Flachdach des Parkhauses war als öffentlicher Platz zwischen den Veranstaltungshallen und dem Rathaus gestaltet und fügte sich harmonisch in das städtebauliche Ensemble architektonischer Scheußlichkeit ein. Mehrere rechtwinklig angelegte Teiche in der Waschbetoneinöde und eine bewachsene Pergola vor dem Hochsicherheitstrakt sollten anscheinend einen grünen Kontrapunkt zur tristen Umgebung setzen. Rainer empfand ehrliche Bewunderung vor so viel fast unschuldig wirkender Naivität der Baumeister und fragte sich, was dieses bauliche Gesamtkunstwerk wohl gekostet haben mochte.
Das Stadtarchiv befand sich tatsächlich im Untergeschoss des Eingangs D –
Gelb!
Drei junge weibliche
Verwaltungsangestellte waren in einen Austausch über die Erlebnisse des vergangenen Wochenendes vertieft, als der Anwalt in ihre Dienstgeschäfte platzte.
»Ich suche die Lokalausgaben der in Castrop-Rauxel in den Jahren 1950 bis etwa 1952 erschienenen Tageszeitungen.
Können Sie mir weiterhelfen?«
Die drei sahen Rainer so überrascht an, dass sich dieser fragte, ob er ein möglicherweise unsittliches Anliegen ausgesprochen hatte. Eine der Frauen nutzte die Gelegenheit, um an Esch vorbei durch die Tür in den Flur zu huschen; eine andere verschwand mit einem Stapel Akten unter dem Arm in einem Nebenzimmer.
»Nee«, antwortete die verbliebene Mitarbeiterin des Stadtarchivs. »Ich nicht. Aber die Kollegin Kremlik. Die ist jedoch im Moment nicht da.
Weitere Kostenlose Bücher