Zweyer, Jan - Rainer
Brummen des MX 5 und das Pfeifen des Fahrtwindes. Der Tacho zeigte 180. Die Straße war frei und trocken. Esch gab sich völlig dem Geschwindigkeitsrausch hin. Scheiß was auf den CO2-Ausstoß, dachte er. Meine Karre hat schließlich einen Kat.
Auf dem Kamm des Teutoburger Waldes war eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h geboten. Esch ließ das Cabrio ausrollen, ohne die Bremsbeläge zu strapazieren. Sister Morphine sang Mick und dabei klirrte eine der Boxen auffällig. Der Anwalt widmete sich mit Hingabe der Neujustierung der Höhen seiner Hi-Fi-Anlage und warf nur gelegentlich einen kurzen Blick auf die Autobahn. So bemerkte er erst im letzten Moment die unmittelbar vor der Ausfahrt Bielefeld aufgebaute Radarfalle. Rainer stieg voll in die Eisen, warf einen besorgten Blick auf die Tachonadel und fixierte aus den Augenwinkeln das Instrument modernen Raubrittertums. Kein Blitz! Zufrieden legte er seinen rechten Arm auf den Nebensitz und genoss The Last Time. Der Mensch hatte nicht immer Pech.
Das Staatsbad Oeynhausen war stolz auf seine schmucke Innenstadt, das Spielkasino im Kurhaus und die Dutzende von Millionären, die hier, umsorgt von zahllosen Ärzten aller Fachrichtungen und noch mehr hübschen Krankenschwestern, die Früchte ihrer Arbeit, beziehungsweise der ihrer Eltern, genossen. Die einfachen Kurgäste, die auf Kosten der Krankenkassen kurten, dienten lediglich als Geldbringer. Die Fassaden der Kurheime, Pensionen und Hotels im Kurviertel wirkten so unnatürlich sauber, dass sich Esch auf der Suche nach der Portastraße 32 wie in einer überdimensionierten Modelleisenbahnstadt vorkam. Nur die Lokomotiven fehlten.
Nachdem er zehn Minuten durch die diversen Einbahnstraßen der Innenstadt gekurvt war, genervt von den ständigen Abbiegege-und -verboten, verfluchte er den Tankwart, der ihm kurz nach dem Verlassen des Autobahnzubringers so souverän den Weg erklärt hatte. Rainer war so weit, seinen Wagen irgendwo abstellen zu wollen, doch die Anwohnerparkzonen hinderten ihn daran.
Er erinnerte sich an ein Parkhaus in der Nähe des Bahnhofs und steuerte seinen Flitzer dorthin. Beim Verlassen der Tiefgarage stolperte er geradezu an einem Stadtplan vorbei und entnahm diesem die genaue Lage der Portastraße, wo Siegesmund Schmidt
– laut Auskunft des
Einwohnermeldeamtes – seinen Wohnsitz hatte.
Die Portastraße lag glücklicherweise nur wenige Gehminuten von Rainers Standort entfernt.
Haus Nummer 32 entpuppte sich als eine ehemalige Gründerstilvilla. Haus Glückauf – Alten-und Pflegeheim stand unübersehbar an der schneeweißen Außenmauer.
Esch betrat das gepflegte Grundstück durch ein übermannshohes, schmiedeeisernes Tor und erreichte über eine leicht ansteigende Rampe die Eingangstür. Rainer drückte den Klingelknopf und ein melodischer Gong ertönte. Wenig später summte der Türöffner. Der Anwalt betrat das Haus.
In einer großen Empfangshalle befand sich links neben einer breiten Treppe eine Art Rezeption. Hinter dem Empfangstresen beschäftigte sich eine weiß gekleidete Krankenschwester mit einem Computer. Sie sah auf, als sich Esch näherte.
Rainer stellte sich vor. »Ich habe gestern angerufen. Ich möchte zu Herrn Schmidt.«
»Einen Moment bitte.« Die Schwester bemühte die Tastatur.
»Ja, richtig.« Die Frau warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Sie waren aber für elf angemeldet«, bemerkte sie vorwurfsvoll. »Jetzt haben wir Mittagszeit. Unsere Gäste erhalten gerade ihr Essen.«
Rainer probierte sein charmantestes Gesicht. »Ich konnte keinen Parkplatz finden. Hier ist ja überall Parkverbot.«
Die Schwester deutete ein Lächeln an. »Stimmt. Na gut, ausnahmsweise. Zimmer zwölf. Das ist im zweiten Stock. Sie können hier rechts den Lift benutzen.«
Als der Anwalt den Aufzug verließ, trat er ihn eine Atmosphäre geschäftiger Betriebsamkeit. Ein Warmhaltewagen, mit Essen beladen, wurde von zwei Schwestern über den Flur geschoben. Ein Pfleger transportierte Wasser-und Saftflaschen. Durch eine geöffnete Tür konnte Rainer eine Art Krankenzimmer erkennen, in dem ein weiterer Helfer eine alte Frau fütterte.
Die kleinen Messingschilder mit den Zimmernummern waren schlecht zu lesen. Rainer meinte, eine Zwölf zu identifizieren, klopfte und öffnete nach kurzem Warten die Tür.
In einem weißen Krankenbett lag ein alter Mann mit geschlossenen Augen, der zu schlafen schien.
»Herr Schmidt?«, fragte Rainer vorsichtig und trat einen Schritt näher an das Bett
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