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Zweyer, Jan - Rainer

Zweyer, Jan - Rainer

Titel: Zweyer, Jan - Rainer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Geheimnis
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heran.
    »Ga, ga«, machte der Alte und drehte mit weit aufgerissenen Augen seinen Kopf in Richtung des Besuchers. Speichel rann ihm aus dem zahnlosen Mund. Er hob langsam den dünnen Arm und zeigte auf einen imaginären Punkt an der Wand.
    »Ga!«
    »Herr Schmidt, können Sie mich verstehen?« In Rainer stiegen Zweifel auf.
    »Gurrkgh. Ga, ga«, erwiderte der Alte und fixierte einen Rollstuhl in einer Zimmerecke. »Grruuh!«
    Esch war enttäuscht. Der Mann vor ihm war hochgradig senil. Trotzdem zog er das Foto aus der Tasche und hielt es ihm vor die Augen. Ein letzter Versuch. Der Patient rollte wie wild mit seinen Augäpfeln und ließ ein aufgeregtes »Aaargh«
    hören.
    »Erkennen Sie jemanden auf dem Bild?« Rainer beugte sich über den Liegenden, um nichts zu verpassen.
    »Gurrkgh.« Das war alles, was Esch hörte. Ein lang gezogenes »Gurrkgh«.
    »Was machen Sie denn hier?«, ertönte eine barsche Stimme von der Tür.
    Der Anwalt schreckte hoch. Eine Altenpflegerin hatte unbemerkt das Zimmer betreten. »Ich wollte zu Herrn Schmidt.«
    »Herr Schmidt?«
    »Ja.«
     
    »Da sind Sie hier falsch. Das ist der erste Stock. Herr Schmidt wohnt in der 12 genau hier drüber.« Die Schwester zeigte mit dem rechten Zeigefinger an die Decke.
    »Oh, Entschuldigung.« Rainer verließ erleichtert den Raum.
    »Verlaufen Sie sich nicht«, spottete die junge Frau.
    »Ga, ga, ga«, verabschiedete ihn der Alte.
    Siegesmund Schmidt war glücklicherweise geistig noch rüstig, wenn auch etwas klapperig auf den Beinen. Er freute sich, Besuch zu bekommen, bestellte Kaffee und Tee und nötigte Rainer, Unmengen von Weihnachtsgebäck und Marzipanriegeln in sich hineinzustopfen. Schmidt erzählte seinem Gast eine Anekdote nach der anderen aus der Nachkriegszeit, bis es Esch endlich gelang, den Redeschwall seines Gegenübers zu unterbrechen.
    »Erinnern Sie sich an dieses Ereignis?« Rainer reichte Schmidt das Foto. »Das war im September 1951. Sie waren damals noch im Zentrum… «
    »Ja, sicher. Da haben wir die Volksschule besucht. Das war in…« Der alte Herr dachte einen Moment nach. »Das habe ich vergessen.«
    »Ich meine, kennen Sie diesen Mann hier?« Esch zeigte auf den dritten von links in der unteren Reihe.
    »Sie meinen den?« Schmidt musterte das Bild angestrengt durch seine dicken Brillengläser. »Wären Sie vielleicht so freundlich, da drüben, auf dem Schreibtisch, die Lupe?«
    Rainer schaffte die Lesehilfe herbei.
    »Ja, ich erinnere mich an die Situation.«
    Rainers Herz machte einen Sprung.
    »Wann, sagten Sie, war das?«
    »September ‘51.«
    »September
    ‘51«, wiederholte Siegesmund Schmidt
    nachdenklich und nahm einen Schluck Tee. »Noch etwas Kaffee, junger Mann? Bedienen Sie sich bitte.«
     
    Esch scharrte unruhig mit den Füßen.
    »September ‘51, so, so.« Schmidt tippte mit dem Finger auf einen der Abgebildeten. »Das hier ist der Grosser, nicht wahr?«
    »Nein«, stöhnte Rainer. »Der daneben ist Grosser.«
    »Ach?«
    »Erkennen Sie sonst noch jemanden?«
    »Ja, sicher. Ich erinnere mich an alle. Das waren Parteifreunde von der CDU.«
    »Vom Zentrum«, korrigierte Rainer.
    »Tatsächlich? So lange ist das schon her? Rauchen Sie? Ich würde jetzt gerne eine Pfeifchen… Liegt alles auch auf dem Schreibtisch.«
    Esch besorgte die nötigen Utensilien. Schmidt stopfte in Ruhe seine Pfeife, zündete sie an und verpestete die Luft mit dem Rauch eines Tabaks, der verdächtig nach einer Mischung aus Rosen und Urinalsteinen duftete. Esch bekämpfte den Gestank mit dem aromatischen Qualm einer Filterlosen.
    »Herr Schmidt, erinnern Sie sich an die Namen der Teilnehmer?« Langsam wurde Rainer ungeduldig.
    »An die Namen? Nach der langen Zeit? Ach was, leider. Nur an Grosser kann ich mich gut erinnern. Wissen Sie, Grosser war, lassen Sie mich das so formulieren, ein Mistkerl. Wissen Sie eigentlich, ob der noch lebt?«
    »Ist schon vor Jahren gestorben.« Rainer war entnervt.
    »Auch schon tot? Ja, ja.« Der Alte inspizierte erneut das Foto. »Aber der hier…« Schmidt zeigte auf den Gesuchten.
    »Ja?« Rainer beugte sich gespannt vor.
    »Wann, sagten Sie, wurde die Aufnahme gemacht?«
    »September ‘51.« Rainer stöhnte leise.
    »War das auf der Parteikonferenz in Ahlen? Dann ist das Konrad Adenauer.«
     
    Esch atmete pfeifend aus. Dann entschloss er sich zur Aufgabe. »Ich muss jetzt leider, Herr Schmidt. Alles Gute«, verabschiedete er sich und schloss hastig die Tür, ohne Schmidts Abschiedsgruß

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