Zweyer, Jan - Rainer
weiterhelfen.«
Rainer bedankte sich für den Hinweis.
»Und wenn Sie doch einmal eine Versicherung benötigen, denken Sie an uns.«
»Klar.«
Friederike Klingenthal machte ein misstrauisches Gesicht, als sie nach Rainers Klingeln durch den geöffneten Türspalt lugte.
»Ja, bitte?«
»Guten Tag. Ich bin Rainer Esch. Ich interessiere mich für das Geschäft, das sich nach 1945 im Erdgeschoss befand.
Können Sie mir weiterhelfen?«
»Warum?«
»Warum Sie mir helfen sollen? Ich möchte…«
»Nein. Was interessiert Sie an dem Laden?«
»Eigentlich interessiert mich nicht das Geschäft, sondern sein Besitzer.«
»Dieser Lorsow?«
Rainer war verblüfft. »Sie kennen ihn?«
»Ich kannte ihn, leider. Er ist schon tot. Was haben Sie mit ihm zu schaffen?«
»Nichts. Ich möchte lediglich mehr über ihn erfahren.«
»Warum?«, fragte die alte Dame zum zweiten Mal.
»Die Geschichte ist so, ich…«
»Erzählen Sie sie mir.«
Die Tür wurde geschlossen. Rainer hörte, wie eine Sicherungskette gelöst und ein Schlüssel gedreht wurde. Dann öffnete Friederike Klingenthal. Sie war mindestens achtzig Jahre alt und stützte sich beim Gehen auf einen Stock.
»Kommen Sie.« Sie schlurfte vor dem Anwalt in ihr Wohnzimmer und zeigte auf das Sofa. »Setzen Sie sich. Und erzählen Sie.«
Rainer entschloss sich, der alten Dame ebenfalls die Legende vom Geschichtsstudenten aufzutischen. Als er geendet hatte, schnaubte Friederike Klingenthal: »Lorsow war ein Schwein!«
»Wie bitte?«, fragte Rainer überrascht.
»Er war ein Schwein«, antwortete seine Gastgeberin unbeirrt.
»In diesem Haus haben schon meine Eltern gewohnt. Ich wurde hier geboren. Damals gehörte das Gebäude und das Geschäft unten im Erdgeschoss noch einer jüdischen Familie.
Sie handelten mit Industrieleuchten, einer der Hauptabnehmer war die Zeche Erin hier in Castrop. Lorsow war erst Lehrjunge, später Verkäufer in dem Laden. Noch bevor die Nazis an die Macht kamen, trat Lorsow der SA bei, dann auch der NSDAP. Er machte schnell Karriere. Schon vor Kriegsausbruch wurde das Eigentum der jüdischen Besitzer zwangsarisiert. So genannter kommissarischer Verwalter und späterer neuer Inhaber wurde ausgerechnet der frühere Lehrjunge: Johann Lorsow. Herr Löw erzählte meinem Vater, dass er Haus und Geschäft für lediglich 5.000 Reichsmark an Lorsow verkaufen musste, zu monatlichen Raten von zweihundert Mark. Kurz danach deportierten die Nazis die Familie. Ich habe sie nie wieder gesehen. Nach dem Krieg gab es eine Untersuchung des Zwangsverkaufes, da es aber keine Erben gab, die Ansprüche stellten… Das Verfahren wurde schon bald wieder eingestellt.«
»Hatte dieser Johann Lorsow Familie?«
»Er war verheiratet. Kurz nach der Geburt seines Sohnes haben sie das Haus verkauft und sind nach Recklinghausen gezogen. Dieser Verbrecher hat sich fremdes Eigentum angeeignet und ist damit reich geworden. Mehr weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen.«
»Können Sie sich an den Namen des Jungen erinnern?«
»Sicher. Er hieß Friedhelm.«
Ein Gedankenfetzen schob sich in sein Bewusstsein, wurde deutlicher. Das Gespräch mit Rastevkow kam ihm in den Sinn.
Und dann hatte er es, klar und ungeheuerlich: »Frau Klingenthal, wie hieß Herr Löw mit Vornamen?«
»Abraham. Abraham Löw.«
Rainer schluckte und stammelte: »Danke. Sie haben mir sehr geholfen.«
In seinem Büro durchwühlte Esch hektisch die Stapel juristischer Fachzeitschriften, die meist ungelesen seine Regale zierten. Nach längerer Suche wurde er fündig. Er las den Artikel über das alliierte Restitutionsrecht. Danach galt jeder Verkauf jüdischen Besitzes in der Nazizeit als ungesetzlicher Zwangsverkauf; es sei denn, der neue Eigentümer konnte zweifelsfrei nachweisen, dass das Objekt zu einem normalen Preis gekauft und das Geld auch in voller Höhe dem früheren jüdischen Eigentümer zugeflossen sei. Davon konnte bei Abraham Löw nun wirklich nicht die Rede sein.
Rainer vertiefte sich wieder in den Artikel: Sollten die früheren Eigentümer nicht überlebt haben oder keine Erben vorhanden sein, waren die alten Besitz-oder
Erstattungsansprüche in voller Höhe auf die Conference of Jewish Material Claims against Germany übergegangen. In den Jahren vor der Vereinigung der beiden deutschen Staaten waren solche Verfahren in der Bundesrepublik weitgehend abgeschlossen oder eingestellt worden. Auch den westlichen Alliierten lag mehr an einem wirtschaftlich starken Deutschland
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