Zweyer, Jan - Rainer
als an Gerechtigkeit. Fünfundvierzig Jahre nach Kriegsende hatte sich das geopolitische Klima aber geändert.
Auf dem Gebiet der früheren DDR war es zu jahrelangen juristischen Auseinandersetzungen über solche unklaren Besitzverhältnisse gekommen, die jede Investitionstätigkeit in davon betroffenen Betrieben verhinderten.
Esch zog an einer Zigarette und dachte nach: Augenscheinlich war der Verkauf des Eigentums der Familie Löw an Johann Lorsow auch nach heutigem Recht ungesetzlich. Die Conference of Jewish Material Claims dürfte also einen Erstattungsanspruch gegenüber den Erben Johann Lorsows haben, der sich in seiner Höhe nach dem heutigen Verkehrswert des Gebäudes und des Geschäftes richten dürfte.
Das würde bedeuten…
Rainer war wie elektrisiert: Ein cleverer Jurist würde eine direkte Beziehung zwischen dem Löw’schen Geschäft für Industrieleuchten und der Firma LoBauTech herstellen und eine Übereignung oder entsprechende Entschädigung fordern.
Unabhängig davon, ob eine solche Konstruktion rechtlichen Bestand hätte, dürfte eine juristische Auseinandersetzung über die tatsächlichen Eigentumsverhältnisse der Firma schweren wirtschaftlichen Schaden zufügen. In den neuen Bundesländern gab es dafür zahllose Beispiele. Und wirtschaftliche Probleme schien der Laden ja nun genug zu haben, wenn die Presseveröffentlichungen stimmten.
War Georg Pawlitsch deshalb umgebracht worden? Hatte er zu tief in der braunen Vergangenheit Lorsows gegraben? Und: Gefährdeten Pawlitschs Entdeckungen die Zukunft des Unternehmens LoBauTechs?
35
Es gibt Tage, die aus dem Kalender gestrichen werden müssten, da an ihnen – getreu Murphys Gesetz – alles, was schief gehen kann, auch schief geht. Dienstag, der 14.
Dezember war so ein Tag.
Rainer hatte sich mit Elke Schlüter, die am Herner Amtsgericht einen Termin wahrnehmen musste, in der Innenstadt verabredet, um mit ihr über Georg Pawlitsch zu sprechen und anschließend essen zu gehen. Sie trafen sich gegen vier Uhr nachmittags in einem Café in der Behrensstraße. Da der Laden Elke nicht gefiel, wechselten sie die Lokalität und suchten sich einen Platz im Weinbistro Julius. Sie waren die einzigen Gäste und entschieden sich für den Tisch direkt neben der Theke. Ein schlanker junger Kellner mit viel Gel im blonden Haar fragte nach ihren Wünschen. Rainer orderte zwei San Pellegrino und zwei trockene offene Pfälzer Riesling, was bei dem Kellner eine hektische Betriebsamkeit hervorrief. Minuten später tauchte er wieder auf und bat sie, doch einen Blick in die Getränkekarte zu werfen, was Rainer mit großem Interesse auch tat. Eschs Lieblingstropfen gab es nur in Flaschen. Der Anwalt glaubte zwar eine ganze Pulle problemlos verzehren zu können, verzichtete aber nach kurzer Rücksprache mit Elke nicht zuletzt wegen der Kosten darauf. Sie wollten ja nur ein Glas trinken.
Der Kellner vergrub sich erneut hinter den Tresen und förderte wenig später eine 0,375-Liter-Flasche zu Tage, die er Rainer stolz präsentierte.
Esch warf einen flüchtigen Blick auf das Etikett. Moset-Saar-Ruwer las er und: Riesling. Er nickte. Kurz darauf stand die Miniflasche im Kühler auf ihrem Tisch. Den Probierschluck schenkte sich der Kellner und goss die Gläser voll.
»Puh, was ist denn das? Ich hatte doch einen trockenen Wein bestellt.«
Auch Elke verzog das Gesicht, nachdem sie den Rebensaft gekostet hatte. »Er hat ihn dir aber gezeigt.«
»Ja… schon. Ich habe bloß nicht richtig hingesehen, sondern unterstellt, dass wir auch einen trockenen… Na gut, ich halte die Klappe.«
»Also, was wolltest du von mir in Sachen Pawlitsch? Du weißt, ich darf dir keine Informationen geben, die wir von unserem Mandanten…«
»Schon gut. Du sollst keinen Parteiverrat begehen. Ich möchte nur deine Meinung hören.«
»Worüber?«
»Ich glaube, dass Lorsow etwas mit dem Mord an Pawlitsch zu tun hat.«
»Du spinnst.«
»Nein, hör mir doch bitte erst zu. Ich weiß aus den Ermittlungsakten der Polizei, dass Pawlitsch mit Lorsows Mercedes angefahren wurde.«
»Na und? Lorsow ist der Wagen gestohlen worden. Er hat die Sache der Polizei gemeldet und das war es.«
»Warte. Pawlitsch war Hobbyhistoriker. Er wollte gemeinsam mit Freunden die Geschichte der Schachtanlage Erin in Castrop aus der Sicht der Bergleute dokumentieren.
Geschichte von unten.«
»Ich verstehe nicht…«
»Bei seinen Recherchen ist er auf einen Mann namens Pjotr Rastevkow gestoßen. Der
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