Zweyer, Jan - Rainer
der Veröffentlichung entstanden, also am 3. September.«
Der Rentner ging an den Regalen entlang, bis er den richtigen Ordner gefunden hatte. Er enthielt, ebenfalls nach Datum geordnet, Blätter mit Einschüben aus Klarsichtfolie, in denen die Negativstreifen ruhten. Terboven suchte einen Moment im Ordner, nahm einen der Streifen heraus und hielt ihn gegen die Deckenbeleuchtung. »Kein Zweifel, das ist es.«
Die Negative kamen zurück an ihren Platz und der Ordner wanderte wieder ins Regal. Dann sah Walter Terboven erneut auf die Karteikarte. »Das Bild ist mit meiner alten Leica gemacht worden. Blende 8, Belichtungszeit eine 250zigstel Sekunde. 21 DIN Lichtempfindlichkeit. Das war schon eine tolle Kamera. Interessieren Sie sich für Fotografie, Herr Esch?«
Rainer interessierte sich im Moment nur für die Buchstaben auf der Karteikarte. Nur dafür. »Was steht auf der Karte?«, wollte er wissen.
»Ja, das war der Besuch des bildungspolitischen Ausschusses des Zentrums in der Volksschule Rauxel.«
»Können Sie mir sagen, wer die Männer auf dem Foto sind?«
»Natürlich kann ich das. Oben stehen von links Adolf Junge, Siegesmund Schmidt, Paul Kunckel, Gerhard Müller. Und unten von rechts Adolf Grosser, Heinz Schallowki, Johann Lorsow, Max…«
Esch erstarrte. »Entschuldigen Sie«, sagte er tonlos. »Können Sie das bitte noch einmal wiederholen? Die Namen in der unteren Reihe?«
»Natürlich. Adolf Grosser, Heinz Schallowki, Johann Lorsow, Max Schulze und Heinrich Knüssel.«
Rainer steckte sich mit zitternden Fingern eine neue Reval an und zog den Rauch bis tief in die letzten Verästelungen seiner Lungenflügel. Johann Lorsow war der Dritte links unten. Der Nazimörder hieß Lorsow. Und Georg Pawlitsch war mit einem Fahrzeug umgebracht worden, das Friedhelm Lorsow gehörte.
Das konnte kein Zufall sein! »Sagen Sie, Herr Terboven, dieser Johann Lorsow, können Sie sich an den Mann erinnern?«
»Flüchtig. Der hatte eine Firma in der Innenstadt, warten Sie… Ich glaube, ich habe da doch noch ein Foto…« Er kramte in einem Karteikasten. »Hier.« Er zog eine Karte hervor und las die Notiz darauf. »Nein, keine Firma. Ein Geschäft. Für Lampen und so etwas. Aber nicht für Haushaltslampen, sondern mehr Industrieleuchten. Am Lambertusplatz 7. Ja, richtig. Ist mit dem Bergbau in der Nachkriegszeit groß geworden. Wenn ich mich recht erinnere, hat der später seinen Firmensitz nach Recklinghausen verlegt.
Aber wann das war? Tut mir Leid, da muss ich passen.«
»Herr Terboven, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.«
»Gern geschehen. Und, Herr Esch…«
»Ja?«
»Vergessen Sie das Stadtarchiv nicht.«
»Ich verspreche es.«
Der alte Fotograf begleitete Rainer zur Tür.
»Herr Terboven, eine Frage habe ich noch. Hat sich in letzter Zeit noch jemand nach diesem Bild erkundigt?«
»Nein, warum?«
»Nur so eine Frage.«
Auf der Rückfahrt überlegte Rainer, wie er weiter vorgehen sollte. Er musste Nachforschungen über die Verwandtschaftsverhältnisse der Familie Lorsow anstellen.
Vorher aber würde er den Zeitungsausschnitt kopieren. Und dann den Gang nach Canossa antreten. Sein Canossa hieß Stadtarchiv Castrop-Rauxel.
Rainer beschäftigte noch eine andere Frage. Wenn Georg Pawlitsch nicht über den Fotografen an den Namen Johann Lorsow herangekommen war, wie dann? Und: Hatte Pawlitsch die Identität des Nazimörders überhaupt gekannt?
Im Haus Lambertusplatz 7 befand sich in der unteren Etage die Agentur einer großen Versicherung. Rainer betrat die Büroräume und benötigte zehn Minuten, um dem Vertreter am Tresen klarzumachen, dass er keine Haftpflichtversicherung abschließen, sondern Informationen über die Vergangenheit des Gebäudes und das Geschäft Lorsows haben wollte.
Als der Versicherungsfritze registrierte, dass mit seinem Besucher kein Geschäft zu machen war, verflog seine aufgesetzte Freundlichkeit. »Sie haben Probleme! Woher soll ich das denn wissen?«
»Hätte ja sein können.«
»Hätte. Ist aber nicht. Sonst noch was?«
Rainer schüttelte den Kopf.
Ein anderer Beschäftigter der Agentur, der weiter hinten im Raum an einem Schreibtisch saß und die kurze Unterhaltung anscheinend verfolgt hatte, meldete sich zu Wort: »Unsere Gesellschaft hat das Gebäude vor etwa zwanzig Jahren erworben. Fragen Sie mich jetzt bloß nicht, von wem.« Er hob entschuldigend beide Hände. »Aber im zweiten Stock wohnt schon seit Ewigkeiten eine alte Dame, vielleicht kann die Ihnen
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