Zwielicht
Whitborns auf, in dem drei Kinder in den Flammen umgekommen waren. In Abwesenheit der neuen Besitzer betrat ich das Haus der Jenerettes und legte meine Hände auf den Ofen, aus dem die tödlichen Gase entwichen waren. In beiden Fällen empfing ich starke Impressionen von Denton Harkenfields Schuld. Als Mutter an einem Samstag zum Einkaufen in die Kreisstadt fuhr, begleitete ich sie und begab mich in jenes leerstehende Haus, wo Rebecca Norfrons verstümmelte Leiche gefunden worden war. Auch dort hatte Denton Harkenfield Spuren hinterlassen, die allerdings nur mit meinem sechsten Sinn wahrzunehmen waren.
Für all seine Verbrechen gab es nicht den geringsten Beweis. Mein Gerede über Trolle wäre noch genauso unglaubwürdig gewesen wie vor mehr als zwei Jahren, als ich Denton Harkenfields wahre Identität zum erstenmal erkannt hatte. Wenn ich ihn öffentlich beschuldigte, ohne daß seine Verhaftung gewährleistet war, würde ich mit absoluter Sicherheit das nächste ›Unfallopfer‹ in unserem Tal sein. Ich brauchte Beweise, und ich hoffte sie zu finden, wenn es mir gelänge, sein nächstes Verbrechen vorherzusehen. Wenn ich wüßte, wo er zuschlagen würde, könnte ich ihn auf irgendeine dramatische Weise daran hindern, wonach sein — nur durch mein Eingreifen verschontes — Opfer gegen ihn aussagen und ihn ins Gefängnis bringen würde. Ich hatte Angst vor einer derartigen Konfrontation, weil ich befürchtete, alles zu verpatzen, und Gefahr liefe, selbst ermordet zu werden. Aber ich sah keine andere Möglichkeit, Harkenfield zu überführen und hinter Gitter zu bringen.
Obwohl seine Doppelidentität mich frösteln machte, verbrachte ich von nun an mehr Zeit in seiner Nähe, denn es schien mir am wahrscheinlichsten, daß ich die blitzartige hellseherische Erleuchtung über seine Absichten in seiner Gegenwart haben würde. Zu meiner Überraschung verging jedoch ein Jahr, ohne daß etwas geschah. Ich spürte zwar mehrere Male ein Ansteigen seiner Aggressivität, aber ich empfing keine Visionen eines bevorstehenden Mordes; und jedesmal, wenn seine Wut und sein Haß ein derartiges Ausmaß annahmen, daß ich glaubte, er müsse jetzt zuschlagen, um den Druck in seinem Innern abzulassen, unternahm er eine Geschäftsreise oder einen Kurzurlaub mit Tante Paula, und jedesmal kehrte er in ruhigerer Verfassung zurück. Ich vermutete, daß er seinen Haß und seine Rage abreagierte, indem er auf diesen Reisen Schandtaten beging, um in der nächsten Umgebung nicht durch ein Übermaß an Katastrophen Verdacht zu erregen. Daß ich von diesen Verbrechen vorher in seiner Gegenwart keine Visionen empfing; lag daran, daß er sie nicht plante, sondern zuschlug, wo sich zufällig eine Gelegenheit dazu bot.
Nachdem unserem Tal ein friedliches Jahr beschieden gewesen war, spürte ich immer stärker, daß Denton seinen Kampf nun wieder auf das ursprüngliche Schlachtfeld zurückzuverlegen gedachte. Was aber noch viel schlimmer war — ich spürte, daß er Kerry, seinen Adoptivsohn, dem er seinen Namen gegeben hatte, umbringen wollte. Falls der Troll in ihm sich von menschlichen Leiden ernährte, was ich damals bereits vermutete, würde ihn nach Kerrys Tod freilich ein unvergleichliches Festmahl erwarten. Tante Paula, die ihren Sohn sehr liebte, würde völlig verzweifelt sein, und der Troll müßte sich dann nicht mit kurzen Besuchen in Trauerhäusern begnügen, sondern könnte 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche ihr Leid genießen. Als der Haß des Trolls von Tag zu Tag intensiver wurde, als mein sechster Sinn einer drohenden Gefahr immer stärker wurde, war ich einer Panik nahe, denn ich konnte Ort, Zeit und Art des bevorstehenden Mordes nicht erkennen.
Eines Nachts Ende April fuhr ich aus dem Schlaf. Ich hatte einen Alptraum gehabt, in dem Kerry in den Wäldern gestorben war, unter hohen Rottannen und Kiefern. Er war in meinem Traum im Kreis herumgeirrt, dem Tod durch Erfrieren nahe, und ich war mit einer Decke und einer Thermosflasche voll heißer Schokolade hinter ihm hergerannt, aber aus irgendeinem Grund sah und hörte er mich nicht, und obwohl er schon sehr schwach war, konnte ich ihn nicht einholen.
Übersinnliche Einsichten hinsichtlich der Art der Bedrohung blieben mir versagt, aber am Morgen ging ich sofort zu den Harkenfields, um Kerry zu warnen. Ich wußte nicht so recht, wie ich ihm die Sache überzeugend beibringen könnte, aber ich wußte, daß ich schnell handeln mußte. Doch als ich hinkam, war niemand zu Hause.
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