Zwielicht
ausweinen, er machte für sie Besorgungen und half auf jede erdenkliche Weise. Auch nach dem Begräbnis stattete er den Trauernden häufig Besuche ab, und erkundigte sich, wie sie zurechtkamen und ob sie Beistand benötigten. Er wurde für sein Einfühlungsvermögen, seine Menschlichkeit und Nächstenliebe über den grünen Klee gelobt, wehrte solche Elogen aber stets bescheiden ab. Das verwirrte mich nur noch mehr. Besonders verwirrend war es, wenn ich den Troll in ihm sehen konnte, der bei traurigen Ereignissen unweigerlich bösartig grinste und sich am Leid der Hinterbliebenen sogar zu weiden schien. Welches war nun der wahre Onkel Denton: das Monster in ihm oder der gute Nachbar und fürsorgliche Freund?
Ich hatte darauf noch keine Antwort gefunden, als acht Monate nach dem Tod meiner Großmutter mein Vater unter seinem Traktor zerquetscht wurde. Er hatte damit große Steine von dem neuen Feld geschleppt, das er zur Aussaat vorbereitete, eine Parzelle von zwanzig Morgen, die von unserem Haus aus nicht zu sehen war, weil ein Ausläufer des Bergwaldes dazwischen lag. Meine Schwestern fanden ihn, als sie nachschauten, warum er nicht zum Essen nach Hause gekommen war, und ich erfuhr es erst, als ich einige Stunden später von einem Ringkampf in der Schule zurückkehrte. (»O Carl«, hatte meine Schwester Jenny geschluchzt, während sie mich fest umarmte, »sein armes Gesicht, sein armes Gesicht, ganz schwarz und tot, sein armes Gesicht!«) Tante Paula und Onkel Denton waren schon zu uns herübergekommen, und er war der Felsen, an den meine Mutter und meine Schwestern sich klammerten. Er versuchte auch mich zu trösten, und sowohl seine Trauer als auch sein Mitgefühl schienen aufrichtig zu sein; doch ich konnte den Troll in ihm sehen, der mich mit glühenden roten Augen anstarrte. Obwohl ich halb glaubte, daß der verborgene Dämon nur eine Ausgeburt meiner Fantasie war und vielleicht sogar meinen Wahnsinn bewies, zog ich mich von Denton zurück und ging ihm nach Möglichkeit aus dem Weg.
Anfangs war der Sheriff mißtrauisch, denn mein Vater hatte Verletzungen, die nicht durch den umgestürzten Traktor verursacht sein konnten. Doch da niemand ein Motiv gehabt hatte, meinen Vater zu ermorden, und da nichts anderes auf eine Gewalttat hindeutete, kam der Sheriff schließlich zu dem Schluß, daß Vater nicht sofort tot gewesen war, als der Traktor umstürzte und ihn unter sich begrub, daß er sich vielmehr verzweifelt bemüht hatte, unter dem Fahrzeug hervorzukommen und sich dabei weitere Verletzungen zugezogen hatte. Bei seinem Begräbnis wurde ich ohnmächtig, wie schon beim Begräbnis meiner Großmutter und aus dem gleichen Grund: Eine mächtige Welle psychischer Energie überrollte mich, eine regelrechte Flut von Gewalt, und ich begriff, daß auch mein Vater ermordet worden war, aber ich wußte nicht, warum und von wem.
Zwei Monate später brachte ich endlich den Mut auf, jenes Feld aufzusuchen, auf dem sich der Unfall ereignet hatte. Okkulte Kräfte zogen mich zu der Stelle hin, wo Vater gestorben war, und als ich auf der Erde niederkniete, in die sein Blut gesickert war, hatte ich eine Vision: Onkel Denton schlägt Vater mit einem Bleirohr seitlich an den Kopf, schlägt ihn bewußtlos und kippt dann den Traktor auf ihn. Mein Vater kommt wieder zu sich und lebt noch fünf Minuten, in denen er sich mit allen Kräften gegen das Gewicht des Traktors stemmt, während Denton Harkenfield danebensteht und sich an seinen Qualen weidet. Diese entsetzliche Vision ließ mich wieder ohnmächtig werden. Als ich einige Minuten später das Bewußtsein wiedererlangte, hatte ich starke Kopfschmerzen, und meine Hände krampften sich um feuchte Erdklumpen.
In den nächsten Monaten betätigte ich mich heimlich als Detektiv. Das Haus meiner Großmutter war nach ihrem Tod verkauft worden, aber ich ging hin, als die neuen Besitzer nicht zu Hause waren, und stieg durch ein Kellerfenster ein, das — wie ich von früher wußte — nicht verriegelt werden konnte. Am unteren und oberen Ende der Kellertreppe empfing ich vage, aber doch unmißverständlich psychische Eindrücke, die mich davon überzeugten, daß Denton meine Großmutter gestoßen hatte, und als sie sich bei diesem Sturz nicht wie erwartet das Genick gebrochen hatte, war er die Treppe hinabgestiegen und hatte das Werk vollendet. Ich begann über die vielen Katastrophen der letzten Jahre in unserem Tal nachzudenken. Ich suchte die Ruine des niedergebrannten Hauses der
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