Zwielicht
Ich wartete einige Stunden, dann ging ich nach Hause, mit der Absicht, gegen Abend wiederzukommen. Ich habe Kerry nie mehr gesehen — jedenfalls nicht lebend.
Am Spätnachmittag hörten wir, daß Onkel Denton und Tante Paula sich Sorgen um Kerry machten. Tante Paula war morgens in die Kreisstadt gefahren, wo sie verschiedenes zu erledigen hatte, und Kerry hatte Denton gesagt, daß er einen Ausflug ins Gebirge, in die Wälder unweit ihres Hauses, machen wollte, um außerhalb der Saison ein bißchen zu jagen. Spätestens um zwei wäre er wieder zurück. Das behauptete jedenfalls Denton. Um fünf war Kerry noch immer nicht nach Hause gekommen. Ich befürchtete das Schlimmste, denn es sah meinem Vetter einfach nicht ähnlich, außerhalb der Saison auf die Jagd zu gehen. Ich glaubte Denton kein Wort, und ich glaubte auch nicht, daß Kerry allein ins Gebirge losgezogen war. Denton hatte ihn unter irgendeinem Vorwand hingelockt und ihn dann... umgebracht.
Suchmannschaften durchkämmten nachts erfolglos das Vorgebirge. Am frühen Morgen machten sie sich in größerer Zahl wieder auf den Weg, mit Bluthunden und mit mir. Ich hatte meine hellseherischen Gaben bis dahin nie bei derartigen Suchaktionen eingesetzt, und ich sagte den anderen nichts von meiner Absicht; denn nachdem ich mich dieser Fähigkeiten nicht nach Bedarf bedienen konnte, glaubte ich eigentlich nicht, daß sie mir in diesem Fall etwas nützen würden. Zu meiner eigenen Überraschung funktionierte mein sechster Sinn jedoch sogar noch besser als der Geruchssinn der Hunde, und nach kaum zwei Stunden entdeckte ich die Leiche am Fuße eines Felsabhangs.
Kerry war so schlimm zugerichtet, daß es schwerfiel zu glauben, er hätte sich all diese Verletzungen beim Sturz in die Schlucht zugezogen. Unter normalen Umständen hätte der Leichenbeschauer wahrscheinlich genügend Hinweise auf einen Tod durch Gewaltanwendung gefunden, aber der Landarzt war über den Zustand des Leichnams so entsetzt, daß er nur eine flüchtige Untersuchung vornahm. In der Nacht hatten sich nämlich Tiere über den Leichnam hergemacht — Waschbären oder Füchse oder Waldratten oder Wiesel. Etwas hatte die Augen gefressen, etwas hatte sich in Kerrys Eingeweide gewühlt, sein Gesicht war zerkratzt, und die Spitzen mehrerer Finger war abgeknabbert.
Einige Tage später ging ich mit einer Axt auf Onkel Denton los. Ich erinnere mich noch daran, wie wild er kämpfte, und ich erinnere mich an meine quälenden Zweifel. Trotzdem schwang ich die Axt mit aller Kraft, denn mein Instinkt sagte mir, daß es um mich geschehen sein würde, wenn ich auch nur die geringste Schwäche zeigte oder auch nur eine Sekunde zögerte. Am deutlichsten erinnerte ich mich daran, wie sich die Waffe in meiner Hand anfühlte: Sie verkörperte die Gerechtigkeit.
Hingegen habe ich keine Erinnerung an den Rückweg von den Harkenfields zu uns. Eben hatte ich mich noch über Dentons Leiche gebeugt, und im nächsten Moment stand ich schon im Schatten der Trauerfichte vor unserem Haus und putzte die blutige Schneide mit einem alten Lappen. Doch dann erwachte ich aus dieser Trance, ließ Axt und Lappen fallen, und blitzartig durchfuhr mich die Erkenntnis, daß die Felder bald bestellt werden mußten, daß die Hügel bald ihre frischen grünen Frühlingsgewänder anziehen würden, daß die Siskiyou-Gebirgskette majestätischer als gewöhnlich aussah, und daß der Himmel über mir noch strahlend blau war, doch vom Westen her dunkle, bedrohliche Gewitterwolken aufzogen. Während ich dort in der Sonne stand, wußte ich — auch ohne meine hellseherischen Kräfte —, daß ich diese geliebte Landschaft wahrscheinlich zum letzten Mal sah. Die düsteren Wolken waren ein Omen für die stürmische, lichtlose Zukunft, die ich gewählt hatte, als ich Denton Harkenfield erschlug.
Und während ich jetzt, vier Monate und Tausende von Kilometern von jenen Ereignissen entfernt, neben Rya Raines in ihrem dunklen Schlafzimmer lag, wußte ich, daß ich vom Erinnerungszug nicht einfach abspringen konnte, daß ich vielmehr die Fahrt bis zur Endstation durchstehen mußte. Schaudernd und in kalten Schweiß gebadet, durchlebte ich noch einmal die letzte Stunde in meinem Elternhaus: das hastige Packen des Rucksacks, die ängstlichen Fragen meiner Mutter, meine Weigerung, ihr zu sagen, wodurch ich mich in Schwierigkeiten gebracht hatte, die Mischung von Liebe und Furcht in den Augen meiner Schwestern, die mich in den Arm nehmen und trösten wollten,
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