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Zwielicht über Westerland

Zwielicht über Westerland

Titel: Zwielicht über Westerland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lindwegen
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Boden ihre Eltern, Großeltern und die Generationen davor begraben worden waren, war schon ausreichend für eine besondere Art von Feierlichkeit, die Sophie in sich spürte.
    Sie hatte ein Herz aus Rosen mitgebracht. Vanessa und Gregor hatten einen Kranz binden lassen und Jan hatte Grablichter besorgt. Niemand würde sich wundern, wenn sie die Gaben irgendwo auf einem fremden ungepflegten Grab ablegen würden, einen Tag vor Totensonntag.
    Gedenk der Toten
war nicht nur ein zu erbringender Respekt den Toten gegenüber. Es war ein Triumph über den Schmerz, die Trauer, den Verlust. Aber auch eine Danksagung an das Leben, welches ihnen geschenkt wurde. Denn unter normalen Umständen hätten sie alle bereits zu den Toten gehört. Somit war es der wichtigste Tag im Jahr für ihresgleichen.
    Der feine Nieselregen kam von allen Seiten, nur nicht von oben, schien es Sophie, als sie das alte Tor zum Kirchhof öffnete, welches sie bereits als Kind gekannt hatte. Der Geruch schwerer dunkler Erde, verfaulenden Grünzeugs und gefallenen Laubes schlug ihnen entgegen. Langsam durchschritten sie die Gänge zwischen den Gräbern. Die Pflege der Grabstellen hatte sich in den letzten Dekaden verändert, fiel Sophie auf. Früher hatten die Trauernden die Gärten ihrer Verstorbenen, wie ihre Mutter es ihr als Kind erklärt hatte, sauber gepflegt gehalten. Als Zeichen der Dankbarkeit, aber auch ein wenig, damit die Leute nicht über sie tratschten.
    Heute brannten überall Lichter auf dem Friedhof, kleine Gipsengel und Steine mit Botschaften zierten die Gräber. Alles änderte sich. Vor einem älteren Grab, das scheinbar lange keinen Besuch gehabt hatte, blieb Alex stehen.
    „Gefällt euch dies hier?“, fragte er ruhig in die Runde.
    Nachdem alle genickt hatten, gab er Sophie das Rosenherz zurück. Gregor und Vanessa traten vor und legten gemeinsam den Kranz nieder. Sie flüsterten beide etwas und Vanessa küsste ihre Fingerspitzen und berührte damit den Kranz. Dann traten sie für Jan und Sophie zurück. Doch Jan blieb stehen. Anscheinend wollte er alleine vortreten. Sophie akzeptierte es und legte ihr Herz nieder. Sie schloss die Augen und viele Gesichter, angefangen bei ihremdamaligen Verlobten über ihre Eltern bis hin zu Martha, flogen an ihr vorbei. Sie hatte viele gekannt, einige geliebt und alle verloren. Sie hatte sich genug Zeit gegeben, es zu verkraften, denn Zeit hatte sie genug.
    Als sie sich erhob, blieb Jan erneut zurück. Alex zog eine kleine weiße Rose aus seiner Tasche und legte sie neben das Herz. Sein Gesicht verriet nichts.
    „Geht schon mal vor, ich komm gleich“, bat Jan.
    Sie ließen ihn alleine und schritten langsam in Richtung Kirche.
    „Sie haben sie wunderschön restauriert“, brach Alex das Schweigen. „Willst du hineingehen, Sophie?“
    Sophie schüttelte den Kopf. „Ich will es nicht sehen. Ich bin dort getauft und konfirmiert worden. Jan auch. Vor neunzig Jahren hätte ich dort heiraten sollen. Wir hatten sogar schon alles mit dem Pastor besprochen, den Trauspruch ausgesucht.“
    „Hast du je erfahren, was deinem Seemann passiert ist?“
    Sie schüttelte erneut den Kopf. „Vielleicht ist es auch besser so. Ich habe mir damals geschworen, diese Kirche nie wieder zu betreten.“
    „Konsequent und stur wie immer“, lächelte Alex.
    „Wie stehst du denn zur Kirche, wenn ich mal fragen darf“, drehte sie den Spieß um.
    Das Lächeln verschwand.
    „Die Frage ist: Wie steht die Kirche zu uns? Denkst du, die sind zimperlich mit uns umgegangen in der Vergangenheit? Das Gute an unserem langen Leben ist, dass wir nicht mit jeder Generation ein wenig mehr vergessen. Wir sind sehr nachtragend, weil wir so viel am eigenen Leib erfahren haben. Letztendlich hat es uns und unsere Gemeinschaft zu dem gemacht, was wir heute noch sind.“
    Gregor ahmte einen Vampirjäger mit zum Kreuz gelegten Zeigefingern nach. „Denkt ihr, der Quatsch aus den Vampirfilmen mit der Angst vor dem Kreuz kommt daher?“
    „Glaubt mir, ich habe Zeiten erlebt, in denen wir tatsächlich bei dem Anblick eines Kreuzes erstarrt sind vor Angst.“ Alex wischte sich den Regen von der Stirn.
    Sophie drehte sich mit suchendem Blick zu Jan um. Er stand da und starrte auf die brennenden Kerzen. Auch er wischte sich über das Gesicht.
    Vanessa war stehen geblieben. Sie schaute Alex offen an und fragte: „Muss man denn vergessen, kann man nicht zumindest ein klitzekleines bisschen verzeihen? Oder nenn es meinetwegen abschließen. Eine

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