Zwielicht über Westerland
alle so sehr mit ihrem eigenen sonderbaren Leben beschäftigt, dass sie gehofft hatten, sein Problem würde sich von alleine lösen? Jetzt war ihr klar, warum Vanessa heute so schlechte Laune hatte. Sie hatte geahnt, was kommen würde, nachdem Annas Station sie zum Abendbrot abgemeldet hatte.
„Brauch Dir wohl nichts zu sagen. Du weißt Bescheid.“ Gregor war aufgestanden und steckte seine Daumen in die Taschen seiner Jeanshose.
Sie nickte und versuchte, nicht allzu bedrückt auszusehen.
„Ja, ich weiß Bescheid. Das ist die Aufregung vor der Reise. Auch wenn sie nur im Zug sitzen muss, wird es sehr anstrengend für sie werden. Ist doch klar, dass sie unruhig ist. Und außerdem fällt es ihr schwer, dich zu verlassen.“
Jetzt nickte er und sah zu Boden.
„Ich hab das Gefühl, das Fieber bringt sie immer weiter von mir weg. Das macht mir eine verdammte Angst.“ Seine Stimme klang etwas heiser.
„Das kommt dir nur so vor. Und solange sie in dem Zustand ist, kann sie sowieso nicht reisen. Nun warte erstmal ab. Warte ab.“
Er blies sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und senkte erneut den Blick, wodurch die Strähne gleich wieder an dieselbe Stelle rutschte.
„Weißt du, wie lange ich gewartet habe, bis ich jemanden wie Anna getroffen habe? Gerade du müsstest mich doch verstehen können.“ „Gregor, ich…“
„Bis Morgen. Ruf mich an, wenn es ihr schlechter geht oder sie mich sehen will, okay?“
„Ich versteh dich besser als du denkst, Gregor“, rief sie ihm leise nach, doch er hörte es nicht mehr.
Es war nicht so, dass sie die letzten Dekaden emotional verschlafen hatte. Sie wusste, wie schwer es war, jemanden erst an sich heran zu lassen, nur um ihn anschließend wieder loslassen zu müssen. Den Moment zu leben, zu lieben, war immer einfach gesagt. Vielleicht ließ sie sich deswegen nie auf eine Beziehung ein. Aber nun, bei Matt, würde sie den Mut haben, wenn er doch erst nur wieder da wäre. Oder?
Sie konnte tun oder denken, was sie wollte, ihre Gedanken landeten immer wieder bei Matt.
Mit leichtem Schuldgefühl verließ sie die Teeküche und machte sich auf den Weg durch das Treppenhaus. Sie musste noch einmal nach Anna sehen. Vorsichtig klopfte sie an die Zimmertür. Als niemand antwortete, ging sie leise hinein. Das war das Vorrecht des Pflegepersonals und der Ärzteschaft. Auch wenn manche Patienten sich so benahmen, war es letztendlich eine Klinik, kein Hotelbetrieb.
Das Nachtlicht am Bettüberbau war ausgeschaltet, nur die kleine Stehlampe auf dem Fernseher brannte. Das schwache, blasse Licht der Energiesparleuchte ließ Anna wie eine Puppe aussehen. Ihre roten Locken hatte sie zum Zopf geflochten, ihre Augenlieder zuckten im Schlaf und ihre Wangen waren dunkelrot gefleckt und schienen fülliger als sonst. Sie atmete durch den Mund, der spröde und aufgesprungen war. Sophie vernahm das Röcheln ihrerAtemwege. Besorgt fühlte sie den Puls und setzte sich dazu auf den Stuhl, der dicht am Bett stand. Hier hatte sicherlich Gregor gesessen und Annas Hand gehalten. Kein Wunder, dass er besorgt war. Anna sah sich selbst nicht ähnlich. Das Fieber schien sie zu verbrennen. Hatte Sophie gehofft, sich selber zu beruhigen, der Besuch bei Anna hatte das Gegenteil bewirkt.
Nein, sie würde Gregor unter keinen Umständen anrufen, auch nicht im ärgsten Fall. Er würde sie hassen dafür, es niemals verstehen können. Aber daran wollte sie nun nicht denken. Die Hosenbeine ihrer weißen Diensthose gaben ein schnell schlurfendes Geräusch von sich, als sie den Gang entlang lief. Energisch klopfte sie an die Tür der Ärztin.
Es wurde eine lange Nacht, in der es Anna immer schlechter ging. Schließlich mussten sie den Chefarzt in die Klinik bitten. Aber letztendlich war die Nacht irgendwann zu Ende und überstanden. Sophie hatte die Verantwortung bei der morgendlichen Übergabe abgegeben und war froh darüber. Die Sorge hatte sie allerdings mit nach Hause genommen. Was würde sie heute Abend erwarten, wenn sie den Dienst antrat? Es war nicht gut, wenn Privates sich mit Beruflichem vermischte, in ihrer Branche jedenfalls.
Mit schweren Beinen und noch schwererem Herzen überquerte sie müde den Parkplatz, um wenigstens ein paar Meter des Heimweges zu sparen. Sie hatte gerade die Straße erreicht, da hupte ein Auto neben ihr. Gregor gab ihr zu verstehen, dass sie einsteigen sollte.
„Komm, ich fahr dich nach Hause.“ Er sah schlecht aus, unrasiert und noch blasser als sonst, fast grau. Er
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