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Zwielicht über Westerland

Zwielicht über Westerland

Titel: Zwielicht über Westerland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lindwegen
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Pate. Er hatte die Verantwortung für sie auf sich genommen, in dem Moment, als er sie zum Vampir gemacht hatte. Dies galt eigentlich nur bis zur zweiten Dekade, das hieß für zehn Jahre, aber für Alex schien es lebenslänglich zu gelten.
    Forsch bürstete sie ihre Haare und flocht sich einen Zopf. Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte, es war sowieso wie immer. Das hieß, sie war keinen Deut älter geworden. In den letzten zehn Jahren war sie vielleicht ein halbes Jahr gealtert. Wozu dann lange in den Spiegel sehen? Unwillkürlich musste sie an alte Filme denken, in denen Vampire kein Spiegelbild hatten. Die Wahrheit war das natürlich nicht, aber auch nicht weit davon entfernt. Sie und ihresgleichen mieden Spiegel, weil diese ihnen ihre Unsterblichkeit vor Augen hielten. War fast unsterblich zu sein nicht auch eine Unfähigkeit? Jeden Tag, unverhohlen, lügenfrei und kalt.
    Er ließ ihr Zeit. Sie räumte noch schnell den Staubsauger weg und deckte den kleinen Frühstückstisch in der Küche. Erst dann klingelte es an der Tür.
    Das erste, was sie sah, war ein riesiger Strauß weiße Rosen.
    „Alles Gute in deiner neuen Dekade“, flüsterte er gedämpft im Hausflur und tippte sich wie beiläufig mit rechtem Zeige- und Mittelfinger an den Hals.
    So grüßten sich die Clanmitglieder untereinander und Sophie tat es ihm gleich, auch wenn sie einander vertraut waren. Es war nicht nur eine Erkennung untereinander, es war ein Zeichen der Clanzugehörigkeit, der Achtung voreinander. Kein Vampir war scharf darauf, einen anderen zu beißen. Es brachte nämlich nicht die erhoffte Befriedigung. Und irgendwie war es auch untereinander verpönt.
    Während sie noch überlegte, wo sie so schnell eine passende Vase oder irgendein Gefäß auftreiben sollte, ging Alex auf den Balkon und schaute sich um.
    Kurzerhand wickelte sie ein Geschirrtuch um einen Messbecher und stellte die Rosen hinein.
    „Ist aber lieb von dir, dass du vorbei kommst“, rief sie in Richtung Wohnzimmer. „Möchtest du Kaffee?“
    Tatsächlich, sie freute sich, ihn wiederzusehen. Vor vier Wochen hatte sie ihn kurz in Hamburg getroffen, in einem Café nahe dem Umsiedlungsbüro, dessen Vorstand er als Clanführer angehörte. Sie hatte dort ihre neuen Papiere, sprich Mietvertrag, Ausweispapiere, Krankenkassenkarte etc. erhalten.
    Sie beobachtete ihn, wie er jetzt geschmeidig durch die Balkontür kam. Er war wie immer korrekt gekleidet, mit Jeans und Anzugjacke. Was jedoch nicht seine drahtige und sportliche Figur verstecken konnte. Für einen erfolgreichen Mann in seinem Alter - sie schätzte, er war bei seinem Biss Anfang vierzig gewesen - genau das richtige Outfit. Seine kinnlangen dunklen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, aber das war sicherlich gefärbt, mutmaßte sie. Denn auch wenn Vampire altern konnten, dauerte dies mehrere hundert Jahre. Zu gerne hätte sie sein Alter gewusst. Jan hatte einmal gehört, dass Alex in der französischen Revolution mitgewirkt hatte. Vielleicht war es nur ein Gerücht, denn über das Alter sprach ihresgleichen einfach nicht.
    Ein Anflug von schlechtem Gewissen überkam sie und sie nahm sich vor, ihm bei der nächsten Gelegenheit etwas zu beichten. Sie hoffte, dass er darauf eingehen, ihr die Last von den Schultern nehmen würde. Er konnte sehr aufbrausend sein; sie hatte es einmal erlebt, aber diese Gedanken wollte sie nicht zulassen.
    „Du gehörst jetzt wieder in meinen Clan“, sagte er freundlich, aber bestimmt.
    Sophie füllte Orangensaft in zwei Gläser und hielt in der Bewegung inne.
    Sie hatte verstanden, was er sagen wollte. Sie wohnte wieder in seinem Gebiet, unterlag seinem Schutz, aber auch seinen Anordnungen. Das war der Preis gewesen, dafür, dass sie wiedernach Sylt wollte. Sie hatte es gewusst, aber ihr Vorhaben war ihr wichtiger gewesen. Sie würde Antworten suchen, in sich selbst und auf Sylt. Darum war sie nach Hause gekommen. Sie hatte nicht so schnell damit gerechnet, aber gewusst hatte sie, dass er versuchen würde, das Band enger zu knüpfen. Das Band aus Freundschaft, Verantwortung und Macht.
    „Und damit unter deiner Knute“, ergänzte sie seinen Satz. „Ich dachte, du wärst als Freund gekommen.“
    „Sophie, bitte.“
    Sie brauchte ihn nicht zu sehen, sie hörte an der Art, wie er ihren Namen aussprach, dass ihre Antwort ihn getroffen hatte. Es war wie immer, er hatte noch nie gewonnen.
    Doch da war auch noch etwas anderes und Sophie wusste genau, was es war. Es waren die

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