Zwielicht über Westerland
einen Grund“, begann sie und senkte ihren Blick auf den weißen Sand, um ihn nicht anzusehen.
„Ist er einer von uns?“
Die kratzende Bitterkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Stirnrunzelnd sah sie ihn an und entschloss sich, diese Frage überhört zu haben.
„Alex, was denkst du, wie lange unsere Unsterblichkeit dauert? Wie enden wir? Gar nicht? Ich weiß es nicht und niemand kann es mir sagen. Gibt es ein natürliches Ende für uns? Bitte, sag es mir!“
„Lebenslänglich eben, das ist doch unwichtig. Niemand weiß, wann er stirbt. Worauf willst du überhaupt hinaus?“ Er schien zu ahnen, dass dieses Gespräch nicht einfach werden würde.
„In dem Clan meiner letzten Dekade habe ich eine Frau kennen gelernt, die meine Einstellung zu unserer - sagen wir mal - Andersartigkeit teilte. Sie hat mir erzählt, dass hier auf Sylt ein Fall bekannt geworden ist. In der Klinik, in der ich morgen anfange zu arbeiten. Ich denke, damit erzähl ich dir nichts Neues, oder?“
Alex blieb stehen und starrte sie an. Entweder hatte er es nicht gewusst, oder er war überrascht, dass sie es erfahren hatte. In seinem Gesicht ließ sich keine Emotion ablesen, das war gefährlich, wusste sie. Schnell fuhr sie fort.
„Die Frau hat mir ihr Alter verraten. Sie war allen Ernstes 365 Jahre alt und total verzweifelt darüber. Alex, das schaff ich nicht. Ich will richtig leben. Ich meine mit allem Drum und Dran. Mit Kindern undMann und solchen Dingen. Nicht jedes Jahr wieder zusehen, wie andere ihren Weg gehen können. Und ich will keine neue Identität mehr annehmen müssen. Ich hasse das alles so.“
Die Verzweiflung in ihrer Stimme konnte er nicht überhört haben, aber er ließ sich nichts anmerken.
„Willst du auch Krankheiten bekommen, Falten kriegen und unechte Zähne?“, fragte er betont leise und ging weiter den Strand entlang.
Es hätte ihr klar sein müssen, denn es lief wie immer. Alex ging nicht auf ihre Fragen und Beweggründe ein, sondern antwortete mit einer Gegenfrage. Das ärgerte sie ungemein, aber sie hatte über die Jahre gelernt und tat es ihm gleich.
„Du hast es natürlich gewusst, du weißt alles in deinem Bezirk. Warum gebt ihr diese Information nicht weiter an uns? Ihr habt kein Recht, sie zu verweigern! Hörst du überhaupt noch zu, was gesprochen wird unter uns? Ich bin mit meiner Meinung nicht so alleine, wie du immer behauptest. Viele haben die Hoffnung, dass eines Tages ein Mittel…“
„Was denkst du denn, was ich zu verantworten habe? Sie werden uns jagen, wir sind in ihren Augen doch nichts als Monster. Guck doch mal zurück, es war immer so und es wird immer so bleiben. Sie verfolgen sich gegenseitig wegen weniger Absonderlichkeiten als unsere Blutsucht. Was denkst du, wie sie reagieren werden? Wir sind eben anders als sie. Und soll ich dir was sagen, ich bin es gerne. Sieh sie dir doch an. Sie können nicht einmal an ihre eigene Brut denken. Sie denken immer nur an den Moment. Das ist doch unbegreiflich.“
Er wurde lauter, bis er förmlich schrie, und Sophie war froh, dass wegen des bedeckten Wetters kaum jemand am Strand war.
„Wir waren einmal sie oder hast du das vergessen“, fragte sie gereizt, obwohl sie wusste, dass er in vielen Punkten die Wahrheit sagte.
„Vielleicht kommt es aber auch anders. Vielleicht lösen sie unsere Probleme und wir können ihnen die Augen öffnen mit unserem Wissen und der ganzen Erfahrung, die wir gesammelt haben.“
Es musste doch einen Weg geben, einen gemeinsamen Weg.
Beschwichtigend legte sie ihre Hand um seinen Ellenbogen. Er stieß sie weg und blieb erneut stehen.
„Was willst du tun? Willst du dich als Versuchskaninchen hergeben? Ich warne dich. Solltest du irgendwas verraten oder irgendjemanden in Gefahr bringen…“
Seine Augen funkelten dunkel.
„Du weißt genau, dass ich das nie tun werde.“ Nach all den Jahren hätte er es wissen müssen. Seine Drohung war überflüssig und reines Machtgehabe.
„Ich will Informationen darüber sammeln. Das wäre doch nur gut für uns alle, oder?“ Ihre Stimme schwankte.
Er schüttelte den Kopf und kickte eine Muschel ins Meer.
„Wir haben die Informationen, die wir brauchen“, antwortete er bitter.
„Alex, bitte sei doch nicht so. Ich hätte es dir früher sagen sollen, aber du hättest mich sowieso nicht abhalten können.“
„Bist du dir sicher? Ich hätte es dir einfach verbieten können, dich zwingen. Was glaubst du, wer du bist und mit wem du es zu tun hast?“
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