Zwielicht über Westerland
eine Eckkneipe in der Friedrichstrasse von Westerland. Dort standen im Winter wieder die Stehtische draußen, welche im Herbst weggeräumt worden waren. Der Wind pfiff durch die Einkaufstraße und der Besuch war nur durch diverse heiße und sehr alkoholische Getränke auszuhalten. Trotzdem erfreute sich der Außenbereich derkleinen Eckkneipe höchster Beliebtheit. Vielleicht lag es daran, dass er einen krassen Gegenpol zu den sonst aufgebauten Holzhütten im Alpenlook bot. Das wiederum freute Elfriede Matzen, die betagte Besitzerin, die an den Abenden teilweise mehr zu tun hatte als im Sommer.
Sophie entschloss sich, pünktlich zur Weihnachtsfeier zu erscheinen, rechtzeitig zu verschwinden und auf keinen Fall mit in die Kneipe zu gehen. Sie tröstete sich damit, dass sie in den letzten Dekaden immer um die Betriebsfeiern herum gekommen war. Man konnte schließlich nicht immer so viel Glück haben.
Den ersten Teil ihrer Absprache mit sich selbst hielt sie brav ein. Mit einem Weihnachtspäckchen unter dem Arm, in dem ein Gutschein vom Kiosk der Klinik enthalten war, denn ihr war nichts Besseres eingefallen, machte sie sich auf in den Klinikkeller. Roswita hatte behauptet, dass die Feier in dem Raum stattfand, indem die verstorbenen Patienten zwischengelagert wurden. Sophie hielt es für kompletten Unsinn, erzählte es aber dann doch Jasmin, einer der jungen Arzthelferinnen, die erst kürzlich als Schwester eingestellt worden war. Die junge Frau verbreitete das Gerücht innerhalb einer Viertelstunde im gesamten Haus, ohne den Keller zu verlassen.
Viele ihrer Kollegen und Kolleginnen kannte Sophie kaum, da sie im Tagdienst arbeiteten. Ihr wurde einmal mehr klar, wie sehr sich die Schichten unterschieden, wenn sie sah, wie vertraut die anderen miteinander umgingen. Ein wenig schmerzte es sie, denn wenn Jan demnächst auch umsiedeln würde, blieb nicht viel, was sich hätte Freundschaft oder auch nur Beziehung nennen konnte. Dankend nahm sie den ersten Begrüßungssekt entgegen und schüttete ihn mit einem Schluck herunter. Das sollte sowohl gegen den Kummer als auch für den gesamten Abend reichen, warnte sie sich.
Die Pflegedienstleitung, Frau Bless, hielt eine kleine Rede zum vergangenen und kommenden Jahr, in der sie entmutigend darauf hinwies, dass nichts besser werden würde. Der Verwaltungsleiter, der Chefarzt und die Geschäftsleitung ließen grüßen und wünschteneine schöne Feier. Der Weihnachtsmann kam vor dem Essen und es war Rolf, der Technikleiter. So hatte er die Gelegenheit, gleich an zwei Weihnachtsessen teilzunehmen und von seinem Arbeitsunfall zu erzählen. Vanessa hatte Recht gehabt, gestand Sophie sich ein. Er war ein Idiot. Sie vermisste ihre Freunde schon jetzt. Und Matt vermisste sie auch. Warum meldete er sich nicht endlich? Zum ersten Mal, aber nach dem zweiten Glas Sekt, fragte sie sich, ob auch er ein Idiot war.
Alle Neulinge vom laufenden Jahr mussten ein Gedicht aufsagen oder ein Weihnachtslied singen. Sophie hasste sich dafür, dass sie sich nicht krank gemeldet hatte. Mehr oder weniger erfolglos wehrte sie sich gegen den weiteren Genuss von Bier und Wein. Einige der Kolleginnen erwarteten jedoch, dass sie mit ihnen anstieß, um sich zu duzen. Das zweite Glas Wein verursachte einen starken Schwindel und ließ sie kurz darauf ganz freiwillig noch ein weiteres Gedicht aufsagen.
Eigentlich wollte sie sich den ersten Kollegen anschließen, die gehen würden, aber Jasmin hatte sie in die Tischecke mit den Zivildienstleistenden und den jüngeren Kolleginnen gezogen. Es wurde ein lustiger Abend und es war gut, dass die Feier im Keller stattfand, zu dem kein Patient Zugang hatte, denn die Witze und Anekdoten gingen meist auf ihre Kosten.
Sophie war plötzlich froh, hergekommen zu sein. Die Anspannung der letzten Zeit und die Angst vor der Zukunft ohne ihre Freunde waren für einige Stunden vergessen. Gegen 22 Uhr verließ Sophie mit dem Rest der Kollegen die Kelleretage. Tom, ein Zivi, hatte sie eingehakt, was ihr auf der schwankenden Treppe einen gewissen Halt verschaffte.
Kichernd ermahnten sie sich gegenseitig, sich leise zu verhalten, als sie in der Halle ankamen. Tom hatte sie noch immer fest im Griff. Roswita wünschte ihnen noch einen schönen Abend und war sichtlich erleichtert, als die Bande ging. Die frische Luft schlugihnen mit solcher Wucht entgegnen, dass Sophie für einen Moment stehen bleiben und die Augen schließen musste.
Tom erkundigte sich, ob ihr übel sei und zog sie
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