Zwielicht über Westerland
Schuldfrage gab es nicht.
„Bruderherz, du musst was in den Magen bekommen, dann geht es dir besser“, versuchte Vanessa die Situation zu wenden.
Sie ging in die Küche und trug diverse selbstgemachte Leckereien auf. Niemandem war zum Essen zumute, aber das Dekadenkind hatte sich so viel Mühe gegeben und starrte sie jetzt erwartungsvoll an mit ihrer aufgeplatzten Lippe und ihren verweinten Augen. Alle nahmen eine Kleinigkeit auf ihre Teller und lobten sie ausgiebig. Jan hatte die Wahrheit gesagt, wer sollte das alles je essen?
„Wen habt ihr damals zum Paten gehabt?“, wollte Sophie wissen. Gregor sollte in wenigen Tagen seinen Dekadentag feiern, was momentan aber kein Thema war, in seinem Zustand und bei dieser Lage der Dinge.
„Eine gütige Nachbarin. Sie konnte es nicht mehr ertragen, uns langsam sterben zu sehnen. Das war vor vierzehn Dekaden in Russland. Ich kann sogar noch ein russisches Lied, soll ich mal?“
Anscheinend hatte sie sich vorgenommen, den Tag noch retten zu müssen.
„Bitte nicht“, bat Gregor seine Schwester. „Du denkst immer nur, du kannst es noch.“
„Was hattet ihr denn?“, interessierte sich Jan, bei dem der Mediziner durchkam.
„Hunger“, antwortete seine Freundin kurz und knapp.
Er lachte und starrte auf den Tisch.
„Das erklärt einiges.“
Sie aßen noch ein wenig und mit der Zeit merkten sie alle, dass ihnen das Gespräch und das gemeinsame Mahl gut taten. Der erste Schock klang langsam ab.
Einen Schock bekam allerdings Alex, der eine Stunde später anrief, nachdem er in München gelandet war. Er wollte Vanessa gratulieren. Das tat er natürlich nur zu den runden Dekadentagen, dafür hatte ihre Gemeinschaft zu viele Mitglieder.
Sophie erklärte ihm in kurzen Zügen, was passiert war und bat um erst zwei, aber dann auf Jans Zeichen hin um drei Umsiedlungen. Aus den Augenwinkeln sah sie Vanessa zu Jan stürmen und ihn freudestrahlend umarmen. Er küsste sie und boxte Gregor auf den Oberarm.
Alex versprach nichts. Er war sehr bestürzt und meldete für den übernächsten Tag seinen Besuch an. Dann würden sie ihm auch Vanessas Geheimnis verraten müssen. Er schien sehr beunruhigt, fragte Sophie aber trotzdem, ob es eine neue Wunschheimat geben würde. Sie brauchte nicht lange überlegen und antwortete, ohne die anderen zu fragen:
“Wenn machbar, Würzburg oder Umgebung.“
Und zur Erklärung fügte sie noch an: „Gregor möchte wieder als Maler arbeiten. Können die in der Bibliothek noch einen Restaurator gebrauchen? Versuch doch mal, deinen Einfluss geltend zu machen.“
Sie wusste genau, wie man Alex packen konnte und er durchschaute es. Trotzdem würde er versuchen, alles zu regeln, was sie wünschte. Er hatte lange gewartet, bis er sich entschlossen hatte, die jungen Leute zu warnen. Zu lange, wie sich jetzt herausgestellt hatte.
Der Beißring würde ohne Gregor wahrscheinlich zerbrechen, das Glücksklee getrennt voneinander. Was für sie sicherlich ein Schicksalsschlag war, war nur ein Bruchteil dessen, was vor sich ging.
Wie lange würde er die Entwicklung noch aufhalten können, ihre Identität schützen? Würde das Netz bald Risse bekommen? Wie lange würde er seine Vormachtstellung noch halten können?
Er lehnte sich auf dem Bett in seinem Hotelzimmer zurück und dachte an Sophie und ihr flachsfarbenes Haar. Damals, als er sie das erste Mal sah, wusste er, dass er nicht stark genug war für sie. Was war, wenn er zwischen ihr und dem Clan wählen musste?
Mühsam erhob er sich, denn die anderen warteten sicherlich schon auf ihn. Er würde ihnen alles berichten müssen.
Zumindest fast alles.
11. Kapitel
Advent, Advent
Eine unvermutete Leere breitete sich in Sophies Herz aus, als sie das ausgeräumte Reihenendhaus noch einmal durchschritt. Erst jetzt wurde ihr klar, wie sehr ihr die drei fehlen würden. Nach Matt würden auch Vanni, Gregor und ihr Bruder Jan die Insel verlassen. Was ihr letzte Woche noch wie ein perfekter Plan vorgekommen war, entpuppte sich nun als schmerzhafter Abschied. Im Flur war ganz schwach der Rest eines Blutfleckes zu erkennen, dort, wo Vanessa gelegen hatte. Ihre Wunden waren bis heute nicht richtig verheilt, was sehr ungewöhnlich war. Denn sie war wieder so blutsüchtig wie vorher und wollte es vorerst auch bleiben. Sophie vermutete, dass sie Angst hatte. Beide Freundinnen hatten beim Abschied geweint. Das Fax an Matts Auftraggeber hatten sie abgeschickt, aber noch keine Antwort erhalten.
In der Klinik hieß es,
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