Zwielicht über Westerland
ausgebildet waren. Manchmal fragte sich sie sich, wie weit der Einfluss der Clans eigentlich reichte. Vielleicht war es jedoch besser, es nicht zu wissen.
Jan nickte und stellte energisch seine Teetasse ab.
„Na, fast hätten Sie jemanden dafür gehabt. Dieser Pellgren hat Vanni niedergeschlagen. Sie hätte nur falsch fallen müssen und Schluss …“
Der Satz hatte gesessen. Die Geschwister erkannten sofort, dass Matts wunder Punkt getroffen war. Sophie überkam schlagartig eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Mitleid für ihn, aber sie war auch gespannt auf die nun folgende Antwort.
„Ich mache mir selbst die größten Vorwürfe deswegen. Wer hätte gedacht, dass der Kerl gewalttätig wird? Das Verrückte daran ist, dass ich Vanessa nur Medikamente gegeben habe, die bereits aufdem Markt erhältlich sind. Die Wahrheit ist, dass die Krankheit physische und psychische Komponenten hat, wie viele andere Krankheiten eben auch. Wir behandeln beides, so gut es geht. Es ist mehr eine Sache der Medikamenteneinstellung, kein Heilmittel. Wir wissen ja noch nicht einmal genau, womit wir es zu tun haben. Und bei Vanessa klappte es sehr gut, darum möchte ich euch bitten, noch einmal mit ihr zu sprechen.“
„Tut mir leid, sie ist vorerst bedient“, versuchte Jan ihn abzuwimmeln.
Sophie musste bei der Doppelbedeutung des Satzes lächeln, verkniff es sich aber. Die Situation war nicht gerade komisch.
„Falls sie es sich anders überlegen sollte, ich bin jederzeit für sie da“ versprach Matt und sie glaubten ihm.
„Du wolltest uns noch etwas über die Nebeneffekte sagen“, erinnerte Sophie ihn.
„Ach ja, danke. Die Patienten, die ich kennen gelernt habe, verfügen über ein enorm stimulierbares Immunsystem, das nahezu mit allem fertig werden kann und das in kürzester Zeit. Es ist eine genetische Erkrankung, wir wissen allerdings nicht, ob es sich um eine zufällige Mutation oder eine Erbkrankheit handelt. Das ist der Schwerpunkt meiner Forschung. Und ich denke, deswegen ist Pellgren mit seinen Leuten hinter mir her. Manchmal glaube ich, sie verfolgen mich, doch jetzt habe ich ihn länger nicht mehr gesehen. Im Haus meines Onkels wurde vor drei Wochen eingebrochen, aber es muss nichts mit ihm zu tun haben. Auf der Insel wird öfter eingebrochen, habe ich gehört.“
Matt erzählte ihnen noch einige, ihnen natürlich bekannte Erkenntnisse. Er sprach ganz frei, ohne übertriebene Fachsimpelei und ohne sich vor dem jungen Arzt und seiner Schwester aufzuspielen. Sophie genoss seine Anwesenheit. Ab und an schenkte er ihr ein Lächeln oder drückte ihre Hand. Ihre Blicke suchten und berührten sich. Seine warme Stimme und das undramatische, rein aus medizinischer Sicht Gesprochene, taten ihr gut. Es war eineKrankheit und er behandelte sie auch so. Endlich einmal nicht von Lebenseinstellung, Clanschutz, Ehre und Verpflichtung zu sprechen, sondern von etwas, das vielleicht zu beheben war, schaffte Zuversicht. Matt gab ihr in dieser Stunde mehr Hoffnung, als sie jemals geglaubt hatte, zu finden. Und er puschte ihr Selbstwertgefühl, indem er ihr die Angst nahm, ein Monster, eine Mutation zu sein. Eine böse Laune der Natur, die noch bis 1923 gepfählt wurden. Dieser bekannt gewordene Fall in Bosnien war zumindest offiziell der letzte.
Nur eines schien Matt nicht zu ahnen – den Drang nach Blut. Ihr war klar, dass er davon sprach, als er die Aggressionen erwähnte, aber anscheinend wusste er nicht, in welche Richtung diese gingen. Er sollte es vorerst auch nicht erfahren, wenn er es denn je glauben könnte. Manchmal glaubte sie selber nicht, wozu sie im Stande war.
Nachdem Matt gegangen war, diskutierte sie noch eine Weile mit ihrem Bruder. Letztendlich konnte sie ihn davon überzeugen, dass Alex nichts von dem Gespräch erfahren sollte. Fürs Erste jedenfalls. Die Liste mit Ereignissen, die Alex nicht wissen durfte, wurde mit der Zeit immer länger und damit fast ein wenig unübersichtlich.
Gegen Abend bereitete sie sich auf den Dienst vor. Sie wusste aus Erfahrung, denn sie hatte immer gerne an Heiligabend gearbeitet, dass heute der schwierigste Abend im Jahr sein würde. Die Bilanz, die die meisten Menschen an Silvester zogen, war nur das Fazit, das Ergebnis. An Heiligabend waren sie noch unvorbereitet und zwar jedes Jahr wieder. Die Erwartungen waren entweder zu hoch oder deprimierend gering. Was über das Jahr an Liebe versäumt, verraten, verloren und herbeigesehnt wurde, würde heute Abend in ihnen hoch zu
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