Zwielicht über Westerland
leicht. So musste sich das Leben für ganz normale junge Frauen anfühlen, schoss es ihr durch den Kopf. Es fühlte sich so gut an und sie wollte nicht, dass es jemals aufhörte. Am ganzen Körper zitterte sie, obwohl ihr nicht einmal kalt war. Matt glaubte ihr das allerdings nicht und brachte sie zu einem der wartenden Taxis.
„Willst du, dass ich morgen Abend zu dir komme?“ Seine Augen fragten noch einiges mehr.
„Morgen hab ich wieder Dienst, ach verdammt. Ruf mich gegen Mittag an, okay?“ Zärtlich legte sie noch einmal ihre Lippen an seine. Dann setzte sie sich in den Wagen.
Noch immer ihre Hand haltend flüsterte er: „Schlaf schön. Bis morgen, ich denk an dich.“
Das Taxi fuhr los und der Fahrer sprach erfreulicherweise kein Wort. Nur aus dem Radio kam leise die Celloversion einer Heavy-Metal-Ballade. Kevin aus der Wohnung über ihr legte das Stück gerne auf. Wie oft hatte sie schlaflos und einsam in ihrem Bett gelegen und gelauscht? Sicherlich würde sie auch heute Nacht wachliegen. Sie war viel zu erregt, um zu schlafen, aber es war nicht mehr das gleiche. Das Leben sollte nie mehr das gleiche sein wie früher, entschied sie. Sie fand, sie hatte genug gewartet. Jetzt war das Schicksal ihr endlich etwas schuldig. Hatte sie nicht schon einmal im Taxi gesessen und sich dafür entschieden? Es kam ihr so vor.
Sie war sich ziemlich sicher, dass Matt an der Erforschung und Bekämpfung der Blutsucht arbeitete. Sie hatte nur nicht weiter fragen wollen, vorerst musste sie sich und Jan schützen. Was würde Matt ihnen verraten über seine Forschungsergebnisse? Hatte er jemals von dem Drang nach Blut erfahren? Vielleicht würde er sich seine Abreise noch überlegen, wenn sie ihm anbot, Vanessas Platz einzunehmen. Doch vorerst mussten sie einen Schritt nach dem anderen machen.
Das Cellostück schien kein Ende zu nehmen.
Matts Geruch haftete an ihrer Kleidung, ihrem Haar, ihren Händen. Sie schloss die Augen und lauschte der Musik.
Ich denk an dich, hatte er gesagt. Ganz tief im Innern spürte sie einen kleinen Stich. Manchmal konnte etwas Gutes verdammt weh tun, wenn man es so lange vermisst hatte, wie sie.
12. Kapitel
Das Fest der Liebe
Die ersten Schneeflocken kamen wie immer überraschend. Es war nicht so, dass Sophie in den letzten neunzig Jahren keinen Schnee gesehen hatte, aber in diesem Jahr kam er sehr früh und außerdem schneite es grundsätzlich wenig auf ihrer Insel. Sie stellte sich ganz dicht an die Balkontür ihrer kleinen Wohnung und schaute den lautlosen Flocken zu. Lächelnd dachte sie an die Kinder auf Sylt, die morgen früh erwachen würden und aufgeregt „Es hat geschneit“ rufen würden. Manche Dinge änderten sich nie, andere über Nacht. So wie die Landschaft auf die sie blickte. Die Dünen, die bereits von einer dünnen Schneeschicht bedeckt waren, glichen einer verschneiten Hügellandschaft. Die Bäume des kleinen Südwäldchens trugen zarte weiße Hauben und die ewig kreischenden Möwen schienen diesen Tag verschlafen zu wollen.
Sie malte ein kleines Herz auf das Fenster, dort wo ihr Atem die Scheibe beschlug. Versonnen lächelte sie darüber, dass alles anders gekommen war als geplant. Die großen Rätsel, die sie zu lösen gehofft hatte, hatten sich selber gelöst oder waren plötzlich nicht mehr so wichtig. Von nun an wollte sie nur noch nach vorne sehen und die Geister der Vergangenheit begraben. Matts Küsse hatten nicht nur einen extremen Unruhezustand in ihrem Inneren ausgelöst, sondern ihr eine andere unbeschwerte Sichtweise gegeben.
Sie wollte endlich leben und zwar richtig. Dazu gehörte allerdings auch, sich von ihrer bisherigen Lebensweise der starken Anbindung an den Clan zu trennen. Das musste sie gründlich durchdenken.
Jedoch nicht heute, wo ihre Gedanken ständig zu Matt flogen. Sollte Alex sein, wie er war. Sollte er Jan zu den ihren geholt haben, waswürde es nützen, die Wahrheit zu erfahren? Alles war so lange her. Vielleicht hätte sie schon viel früher loslassen sollen, ging es ihr durch den Kopf.
Wenn Matt sie, statt Vanessa, zum Forschungsobjekt wollte, dann könnten sie zusammen bleiben. Auf Sylt, oder sonst wo. Es war ihr egal, die Hauptsache war, sie waren zusammen.
Als sie am gestrigen Abend in ihre Wohnung kam, saß Jan an seinem Laptop mit Übertragungskamera und sprach mit seiner Freundin. Die Spuren von Pellgrens Angriff waren noch deutlich zu erkennen. Vanessas Regenerierungsphase verlief wie bei Normalos, was Jan ihr später
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