Zwielicht über Westerland
mit unzähligen Gummiflaschen bewaffnet, zurückkehrte. Matt hatte alle Patienten an den großen Tisch neben dem Baum versammelt und spielte mit ihnen Karten. Neben ihm lag ein Stapel mit kleinen Zetteln, die er sich eindeutig an der Rezeption geklaut hatte.
Sie wusste nicht, wie er es gemacht hatte, aber die Patienten waren so eifrig dabei, dass sie sie nicht einmal bemerkten. Matts Augen leuchteten und er tat unglaublich feierlich, wenn er einem seiner Mitspieler einen der Zettel als Gewinn überreichte. Es waren verrückte Gutscheine über Dinge, die sowieso kostenlos waren, wie drei Runden schwimmen im Bewegungsbad oder ein Glas Orangensaft aus der Küche. Darauf schien es aber nicht anzukommen, es war die Freude, die er ihnen vermittelte. Das Gefühl, Teil von etwas sein zu können und wenn auch nur an diesem einen Abend. Erst als eine sehr betagte Dame sich beschwerte, dass sie nichts gewonnen hatte, erhob er sich und lachte schallend durch die große Halle.
„Sie bekommen einen ganz besonderen Preis. Ich werde Sie nun auf ihr Zimmer bringen.“
Die Meute kreischte, die Dame lief rot an und nahm trotzdem seinen Arm. Die Gruppe löste sich fröhlich auf und Sophie blieb auf ihren Wärmflaschen sitzen. Fasziniert sah sie ihm nach.
Es wurde der schönste Abend aller Dekaden. Matt und Sophie saßen im Halbdunkel neben dem Baum, tranken Tee und erzählten einander Geschichten aus ihrer Kindheit, wobei Sophie natürlich etwas vorsichtig sein musste. Küssen konnten sie sich allerdings nicht, denn selbst die diensthabende Ärztin war ein wenig vom Weihnachtsvirus befallen und gesellte sich lange Zeit zu ihnen. Erst gegen Morgen verschwand sie in ihrem Bereitschaftszimmer. Sophiehatte nur zwei Wärmflaschen und drei Zimmerbesuche gebraucht, die Nacht war still gewesen.
Schwester Jasmin, die sie am Morgen ablösen kam, lächelte verschmitzt bei Matts Anblick, sagte aber nichts.
Am Kliniktor küsste Matt Sophie endlich. Seine Küsse waren fordernd und zärtlich zugleich. Wie benommen willigte sie sofort ein, als er sie bat, mit ins Haus seines Onkels zu kommen. Es knirschte leise unter ihren Füßen als sie über die unberührte Schneedecke des Parkplatzes zum Auto des Professors liefen.
Hatten sie die ganze Nacht nur geredet, sprachen sie die Fahrt über kein Wort, bis sie im Haus waren. Im Flur hatte er eigentlich nur ihren Mantel nehmen wollen, doch als er hinter ihr stand, fuhren seine Hände wie von selbst über ihren Rücken bis hin zu ihrem Zopf. Er löste das Band und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Leise flüsterte er ihren Namen und drehte sie zu sich, während er ihren Mantel einfach fallen ließ. In seinen Augen lag nicht nur Zärtlichkeit, es war diese fordernde Entschlossenheit, die ihr eine wohlige Gänsehaut bereitete. Nachdem sie sich bereits an der Garderobe halb ausgekleidet hatten, fragte er sie, ob sie etwas trinken wolle. Sie schüttelte nur heftig den Kopf, unwillig zu antworten. Sie hatte genug geredet, genug getrunken, genug gewartet, genug gedacht. Nur gelebt hatte sie nicht genug - lange, aber nicht genug. Leben spüren, Leben hier und jetzt. Er musste sie regelrecht in die erste Etage des Hauses drängen. Oben im Bett der kleinen Dachkammer schmiss sie sämtliche Bedenken der letzten Tage über Bord. Es war ihr egal, wie gut sie ihn kannte, was die anderen sagen würden. Und Alex mit seinen verdrehten Ansichten von Ehre und Treue war ihr gleichgültig. Die Welt gehörte den Mutigen. Für einen kurzen Augenblick dachte sie mit Reue daran, sich ihm einmal hingegeben zu haben. Dann schmiss sie den Gedanken beiseite, es war lange her und sollte ihr heute gleichgültig sein. Damals war sie jung gewesen und wusste nicht, was Leben wirklich bedeutet.
Während Matt im Bad verschwunden war, zog sie sich restlos aus und schlüpfe unter die Decke. Ihre gesamte Haut schien elektrisiert, ihr Inneres schien vor Erwartung zu bersten.
Es war verrückt, irgendwie gerecht, aber verrückt. Sie lag dort, wo das Haus ihrer Eltern gestanden hatte. Dort, wo ihre Eltern ihre Hochzeitsnacht verbracht hatten und sie und ihren Bruder zeugten. Sie hatte auf diesem Grundstück das Licht der Welt erblickt, doch hatte sie sich nie so lebendig wie in diesem Moment gefühlt. Ein Stück verlorene Heimat hatte sie gewollt, darum war sie nach Sylt gekommen. Erst jetzt fühlte sie sich zu Hause, doch sie merkte, dass es nicht an dem Ort lag. Es lag an Matt. Sie hatte Liebe gesucht, nicht Heimat. Oder war es das
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