Zwielicht über Westerland
kriechen, bis es ihren Verstand erreicht hatte. Wie oft hatte sie von Patienten: “Hätte ich doch meine Tochter…“, „Mein Mann ist jetzt seit zwei Jahren tot“ oder „Warum habe ich meine Jugendliebe damals nicht…“ Auch ihr selbst waren diese Gefühle nicht fremd, sie hatte nur in den endlosen Jahrzehnten gelernt,damit umzugehen. Lediglich die Sehnsucht kannte kein Alter. Das Fest der Liebe war der Tag, den niemand bereit war, so zu nehmen, wie er kam.
Sophie wappnete sich also innerlich für einen emotional aufreibenden Dienst. Wenn sie morgen früh nach Hause gehen würde, wollte sie gewiss sein, dass sie einmal mehr einen guten Job getan hatte. Doch wenn sie nur einen kleinen Moment ehrlich zu sich war, dann war in ihrem Herzen ebenfalls ein kleiner geheimer Weihnachtswunsch. Sie wünschte sich, er würde sie am Morgen von der Klinik abholen und mit nach Hause nehmen.
Doch wie immer kam alles ganz anders. Beim Betreten der Klinik war die umgreifende Weihnachtskrankheit bereits deutlich zu spüren. Anja saß mit glänzenden Augen hinter der Rezeption und empfing sie mit einer Umarmung, in der das ganze einsame Elend der Menschheit lag. Sophie kannte Anjas Geschichte. Auch sie war aus einem anderen Leben geflüchtet und nach Sylt gekommen. Sie hatte einen Neuanfang mit nicht endender und verdienter Ruhe gewollt und bekommen. Manchmal waren Wünsche gar nicht mehr so toll, wenn sie erfüllt wurden. Anja Leben war ruhig und einsam. Kurz entschlossen schnappte sich Sophie einen der Zivis und setzte ihn hinter den Tresen. Dann begann sie ihren Rundgang durch das Haus, hakte sich bei Anja ein und zog sie mit sich. Wie immer begann der Rundgang in der Küche. Es hatte ein fantastisches Weihnachtsbüfett für die Patienten gegeben und Vanessas Nachfolgerin hatte ihnen vier voll beladene Teller mit Folie abgedeckt und mit Weihnachtswünschen in den Kühlschrank gestellt. Es war wichtig, dass gerade heute den Patienten und dem diensthabenden Personal das Essen gefiel.
„Der wichtigste Mann an Bord ist der Koch.“ Lange hatte sie nicht mehr an Hannes, ihren Verlobten gedacht. Warum gerade jetzt? Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie seine große Statur und sein blondes Haar vor sich. Sollte der Weihnachtsvirus sie erwischt haben? Sie schüttelte den Gedanken missbilligend ab. Vielleicht wares, weil er ihre erste Liebe war und weil ihr Herz seit damals nie wieder so gefühlt hatte, wie jetzt, da sie Matt kennengelernt hatte. Bei dem Kontrollgang durch die Stationen nahm sie Anja mit und versuchte sie mit allerlei Geschichten aus ihrem Nachtschwesterjob aufzumuntern. Spätestens als sie wieder an der Rezeption ankamen, war Anjas Laune umgeschlagen. Am heutigen Abend waren viele der Patienten nicht nach dem Abendbrot auf ihr Zimmer verschwunden. Die Gefahr, dort Geistern zu begegnen war zu groß an Heiligabend. Ungefähr fünfzehn Patienten hatten sich in der Halle niedergelassen und starrten mehr oder weniger auf den großen Weihnachtsbaum.
Der Zivildienstleistende erwartete sie schon, da sein Dienst beendet war. Auch Anja machte sich auf den Weg und versprach anzurufen, sollte der Weihnachtsvirus sie noch einmal befallen.
Gerade, als sie die Tür von innen verriegeln wollte, kam eine dunkel gekleidete Person mit eiligen Schritten den Weg herauf. Sie fuhr zusammen, denn der Schock über Vanessas Überfall saß tief. Die Automatiktür öffnete sich schneller, als sie abschließen konnte.
„Hey, hab ich es gerade noch rechtzeitig geschafft.“ Matt lächelt sie glücklich an.
Sie sagte ihm nichts von ihrer Angst. Es hatte wieder zu schneien angefangen. Viele weiche Kristalle lagen auf seinem Wollpullover und lösten sich durch die Berührung ihrer Fingerspitzen sofort auf.
„Willst du heute Abend etwa arbeiten?“ fragte sie überrascht.
„Du arbeitest doch auch.“ Er lachte leise. „Nein, ich will nicht arbeiten. Ich wollte gerne bei dir sein, zumindest in deiner Nähe. Mein Onkel ist abgereist und ich sitze sowieso nur da und denke an dich. Da hoffte ich, es ist eine gute Idee herzukommen, ist das okay?“ Er unterbrach seinen Versuch, sie zu küssen, als er die vielen Leute in der Halle sah.
„Was ist denn hier los?“
„Ausnahmezustand“, seufzte sie. „Ich werde schon mal eine Batterie Wärmflaschen fertig machen. Heute Nacht werden viele von ihnenWärme brauchen.
„Das brauchen wir alle. Ich glaube, sie brauchen ein wenig Ablenkung.“
Lautes Lachen erfüllte die Halle, als Sophie
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