Zwielichtlande - Kellison, E: Zwielichtlande
hinter einem hohen, breiten Fenster, das jetzt von faustgroßen Löchern übersät war.
Talia ließ die Schatten über ihre Haut gleiten, ihr Gesicht und ihren Körper von ihnen streicheln. Wenn sie sich nicht gegen die Schatten wehrte und zuließ, dass einzelne Bahnen ihre Glieder umschmeichelten, sie umarmten, und sie sich von der Dunkelheit umhüllen ließ, konnte sie klarer sehen.
Zunächst verdoppelte sich ihre Vision, dann verdreifachte sie sich. Ein weiterer Custo näherte sich dem Gebäude mit dem Loft und musterte die Tastatur an der Tür. Wieder ein anderer Custo folgte ihm auf den Fersen und rannte über den Bürgersteig. Auf der schräg gegenüberliegenden Straßenseite lief ein weiterer Custo auf den Fußgängerüberweg an der Ecke zu, als gerade ein Wagen, in dem ein Custo am Steuer saß, um das Gebäude herumfuhr.
»Ich begreife das nicht. Welcher von denen ist Custo? Welcher ist der richtige?« Hilfe suchend blickte Talia zu Abigail.
»Bis sie anfangen zu handeln, ist keiner von ihnen real«, erwiderte Abigail. »Du siehst lediglich Möglichkeiten, verschiedene Varianten, wie er auf das Gebäude zugehen könnte. Wahrscheinlich gibt es noch viel mehr, die sich entschieden haben, sich nicht zu zeigen, und aus dem Kampf ausgestiegen sind.«
»Nein«, sagte Adam voller Überzeugung. »Es gibt keine anderen Versionen von Custo. Er ist ein Mann, der zu seinem Wort steht. Custo geht zum Loft.«
Adam hatte recht. Nachdem sie sich auf unterschiedliche Weise dem Eingang genähert hatten, musterten am Ende alle Custos die Tastatur neben der Tür.
»Aber er geht nicht hinein«, fuhr Adam fort, als könnte er Custo durch seinen Willen beeinflussen. »Durch unsere Flucht haben sich die Eingangscodes geändert. Er wird merken, dass etwas nicht stimmt. Wenn er schlau ist, geht er.«
Talia sah, wie sich der Ausdruck in den vielen Custogesichtern wandelte, als der Zugangscode tatsächlich abgewiesen wurde. Ein Custo fluchte. Ein anderer raufte sich die Haare. Ein weiterer trat zurück auf den Bürgersteig, sah an dem Gebäude nach oben und ging dann erneut zu der Tastatur.
Alle Custos betraten das Gebäude.
Talias Augen tränten, ihr Atem ging schneller. Sie hatte den stets zuverlässig, direkt und ehrlich wirkenden Custo immer gemocht.
Adam stöhnte verzweifelt auf. »Verdammt. Nein.«
»Er ist ein guter Freund«, stellte Abigail fest.
»Er ist ein Idiot«, brüllte Adam. Der Schmerz, der in seiner Stimme mitschwang, hallte in Talia wider.
Jeder Custo zog seine Waffe. Alle bis auf einen nahmen die Treppe; der andere wählte den Aufzug. Mit erhobener Waffe betrat Custo die Loftwohnung.
Was als Nächstes geschah, ließ sich aufgrund der schnellen Bewegungen nur unscharf erkennen, aber Talia sah, wie Custos Kopf zurückzuckte, als hätte ihn ein Schlag getroffen. Sie beobachtete, wie er einen Tritt in den Bauch bekam und sich zusammenkrümmte. Als er hinfiel und Blut spuckte, erschauderte sie.
»Was?«, fragte Adam. »Was? Was ist los?«
Talia schob die Schatten beiseite und würgte bei dem Versuch, sie aus ihrem Körper zu vertreiben. Aus ihrem Kopf. Als sie nach Luft rang, kratzte der überirdische eklige Schleim in ihrer Kehle. Sie taumelte vor Anstrengung, brannte innerlich, aber Adam stützte sie und zog sie an sich.
Ein Schaudern erfasste ihren Körper. Vor Erleichterung. Sie hatte sich gewünscht, dass Adam sie in die Arme schloss, brauchte es sogar. Sie hatte nur nicht gewusst, wie sie das erreichen konnte.
»Bist du in Ordnung?« Vor lauter Anspannung spie Adam die Worte förmlich aus.
Talias Lungen schrien, aber sie nickte ein stummes Ja an seinen Rippen. Es haftete noch ein schwacher Hauch von Abwasser an ihm, aber darunter roch er wieder ganz nach Adam.
»Kannst du eine Weile hierbleiben?« Er zog sie mit sich zum Ausgang.
Sie schüttelte den Kopf. Nein . Sie wusste, was er dachte. Um keinen Preis würde sie ihn allein gehen lassen.
»Talia, diese Leute scheinen in Ordnung zu sein. Wenn sie uns etwas antun wollten, hätten sie es längst getan. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Ich kann nicht bleiben. Das musst du verstehen. Ich kann nicht einfach zusehen, wie Custo stirbt.«
Talia verstand durchaus. Er war wieder einmal zu überheblich. Riss einfach die Kontrolle an sich. Sie hatte ihn nicht gebeten, auf sie aufzupassen. Wenn er endlich sein machomäßiges ›Ich-muss-die-Welt-retten‹-Gehabe ablegen würde, wüsste er, dass sie ihn sehr wohl verstand. Ihr »Nein« hatte nichts
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