Zwielichtlande
Schattenmann wieder zusammen.
Custo stieg durch die Trümmer und fand den Hammer im Staub, genau jenen, den er in der Waffenkammer des Turms in der Hand gehalten hatte. Der Griff aus festem dunklem Holz war vom vielen Gebrauch ganz glatt geworden. Auf der einen Seite war der Kopf breit und stumpf, auf der anderen rund. Das Werkzeug eines Hufschmieds. Custo hatte keine Ahnung, was der Tod damit vorhatte, wo es doch genügend gefährliche Schwerter gab.
Als er sich umdrehte, blieb ihm fast das Herz stehen.
Mit geduckten Schultern schlich der Wolf langsam über die Straße auf sie zu. Er bellte einmal, und Annabella fiel auf die Knie.
»Jäger«, sagte der Tod, »das ist nicht nötig. Du hast sie bereits an dich gebunden.«
Custo sprang von den weißen Trümmern herab, während der Wolf sich in eine Art Mann verwandelte, nackt, haarig, mächtig und böse. Die starken Muskeln traten deutlich aus dem kräftigen Körper hervor. Die Gestalt wirkte wild, aber nicht mehr so fanatisch wie in Segue. Sie war vielmehr listig und suchte nach Schwachstellen, die er ausnutzen konnte.
Er hatte Fallen ausgelegt, und eine hatte zugeschnappt. Nun war er gekommen, um seine Beute einzusammeln.
Custo half Annabella aufzustehen, reichte dem Schattenmann den Hammer und sagte: »Du bekommst sie nicht. Das lasse ich nicht zu.«
»Du kannst mich nicht aufhalten«, erwiderte der Wolf. »Komm«, bellte er Annabella zu.
Ihre schwarzen Augen schienen zu pulsieren, die feinen Linien auf ihrer Haut wurden stärker. Annabella wankte, sagte aber, stur wie immer: »Nein.«
»Komm!«
Annabellas Konturen verschwammen, die Schatten in ihr zogen sie gehorsam in Richtung des Wolfs, doch der Rest von ihr blieb in den Trümmern verwurzelt. Custo legte seine Arme um ihre Taille. Ihre schmale Gestalt zitterte, denn sie widersetzte sich mit jedem trainierten Muskel dem Zwang aus dem Schattenreich.
Wie lange konnte sie das durchhalten?
Eine Stunde? Einen Tag? Und wenn schon, was konnte sie noch tun, außer sich zu widersetzen und durchzuhalten? Sie würde kämpfen, bis ihr Körper schlappmachte. Annabella bestand aus purer Willenskraft, die sie den Großteil ihres Lebens ebenso trainiert hatte wie ihren Körper. Sie war von Natur aus eine Kämpferin.
»Komm. Jetzt!«, knurrte der Wolf über die Straße hinweg. Sein widerliches Ding wurde hart, als würde er sich bereits darauf freuen, sie zu beherrschen.
Wut tobte durch Custos Kopf. Er schob Annabella hinter sich. Solange Custo lebte, würde dieses Monster sie nicht anfassen.
Annabella griff um Custos Körper herum und zeigte dem Wolf den Mittelfinger. Gott, wie Custo sie dafür liebte.
Adams Gedanken drangen zu Custo durch. Wir haben sechs Waffen auf ihn gerichtet. Ich warte nur auf dein Zeichen.
Wenn man den Wolf mit konventionellen Waffen bekämpfte, verlängerte man dadurch nur das Unvermeidliche.
Luca fügte hinzu: Mit drei Klingen des Ordens wären wir wohl in der Lage, ihn aus der Welt zu befördern.
Dann wäre für den Wolf gesorgt, aber was war mit Annabella? Die Schatten machten sie krank. Um zu überleben, musste sie irgendwann ins Jenseits zurückkehren, wo der Wolf bereits auf sie warten würde.
Nein. Der Schattenmann hatte den einzig möglichen Weg genannt: Der Wolf musste sie freiwillig gehen lassen. Aber womit konnte man das Biest dazu bewegen, wo es Annabellas Macht schon beinahe besaß?
Er musste ein besseres Angebot für den Wolf finden.
Custo ließ den Blick zu Luca gleiten. »Du hast gesagt, dass meine Anwesenheit auf der Erde, mein Körper, meine Entscheidung sei?«
»Nein.« Luca schüttelte den Kopf. Er hatte also auch schon daran gedacht. Du hast kein Recht, deinen Körper, deine wundervolle Seele, einem Schattenwesen anzubieten. Annabella gewährt ihm freien Zugang zur Erde, aber mit dir könnte er in den Himmel eindringen.
Kurzum, ein besseres Angebot. Die Lösung lag auf der Hand: Er musste den Wolf davon überzeugen, Annabella freizulassen, wenn er dafür ihn bekam. Eine Sterbliche für einen Engel.
Annabella kniff Custo heftig und lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zu sich. Ihre Augen waren riesig, die Linien auf ihrer Haut sahen aus wie die auf altem, gesprungenem Porzellan.
»Ich weiß zwar nicht, was du denkst«, sagte sie drohend, »aber ich weiß, dass es mir nicht gefällt.«
Darüber musste Custo lächeln. Die Welt brauchte jemanden mit ihrem Geist, ihrem Talent, ihrem Strahlen. Er würde nicht danebenstehen und zusehen, wie sie erlosch.
Zu Luca
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