Zwielichtlande
versprachen die Beeren eine saftige Geschmacksexplosion in seinem Mund. Nur ein Biss …
Nein. Nach der Meerjungfrau konnte er nichts mehr trauen. Jede Geschichte, jedes Märchen, das er je gehört hatte, riet davon ab, im Jenseits etwas zu essen. Im Schattenreich durfte er nichts und niemandem trauen. Custo wandte sich ab.
Ein kleines Wesen, das einem Kaninchen ähnelte, sauste durch die Bäume. Es blieb stehen, setzte sich auf die Hinterbeine, reckte den Kopf in die Höhe und sah ihn aus allzu menschlichen Augen an. Seltsam. Das Tier hob den Kopf, als witterte es Gefahr, und hoppelte davon.
Custo lauschte ebenfalls, aber er hörte nur das Ächzen und Knarren der Bäume. Ein gelegentliches Knacken. Ein unheimliches Jaulen.
Nein, kein Jaulen. Traurige, langsame Geigen.
Er drehte sich um und ließ den Blick suchend über die Bäume gleiten. Vor ihm schimmerte ein Streifen weißen Lichtes, der zum Teil von schwarzen Stämmen verdeckt wurde. Das Licht nahm ab und hellte wieder auf.
Er ging darauf zu, um es zu untersuchen, und entdeckte eine Lichtung, umgeben von knorrigen alten Bäumen. In der Mitte tanzte eine Frau. Sie bestand aus Licht und war schlank, groß und verloren, ihre Haut blass und schimmernd. Ihre dunklen Haare hatte sie auf dem Hinterkopf zu einem Knoten hochgesteckt, wie eine Fee oder eine Ballerina. Auf Zehenspitzen glitt sie dahin und setzte sich mit jeder Dehnung und Beugung ihres Körpers über die Schwerkraft hinweg. Die bewegende Musik gehörte zu ihr. Sie berührte ihn.
Noch mehr Feenzauber? Es war ihm egal.
Sie hielt die meiste Zeit den Blick unendlich traurig auf den Boden gerichtet, aber als sie das Gesicht hob, um eine Drehung zu tanzen, war es voller Hoffnung, und er wusste, dass er nie mehr derselbe sein würde.
Sie musste ihm gehören. Er spürte es mit jeder geschundenen Faser seines Körpers.
Die sanfte Linie ihres Kinns, die jungen vollen Lippen und ihre märchenhaften Augen schienen perfekt. Plötzlich überkamen ihn heftige Zweifel: Die Frau – kaum mehr als ein Mädchen – war alles, was er nicht war. Er rau, sie weich und geschmeidig. Er gierig und grob, ihre Bewegungen voller Magie, wie ein Traum. Er verdorben und verbraucht, sie strahlend und frisch.
Custo schob den Zweifel beiseite. Nun, er war eben ein selbstsüchtiger Mistkerl. Schade. Er musste sie bekommen, oder er würde für immer leiden.
Angespannt und voller Erwartung versteckte er sich hinter einem dicken Baum. Er wollte sie nicht erschrecken, aber wenn sie sich nun einmal in diese Richtung bewegt hatte …
Ein Knurren drang über die Lichtung.
Custos Aufmerksamkeit zuckte zu den dunklen Bäumen auf der anderen Seite. Ein riesiger schwarzer Wolf bleckte die Zähne, duckte sich und machte sich bereit, die Frau anzugreifen.
Die Tänzerin verspannte sich etwas, fuhr jedoch mit ihren Bewegungen fort. Wieso? Ganz offensichtlich wusste sie um die Anwesenheit des Wolfs. Als sie noch stärker erblasste, merkte er, dass sie Angst hatte. Wieso wich sie nicht zurück?
Der Wolf entdeckte Custo und veränderte seine Haltung, er legte die Ohren an und bereitete sich auf einen Angriff vor.
Eine Zorneswelle packte Custo. Er durfte nicht zulassen, dass der Wolf ihr etwas antat.
Mit ausgebreiteten Armen trat er langsam aus den Bäumen hervor. Seine Aufmerksamkeit richtete sich zugleich auf die verschreckte Frau, die ausgerutscht und stehen geblieben war, und auf den gefährlichen Wolf, der die Lefzen nach oben zog und seine messerscharfen Zähne bleckte.
Custo trat in die Mitte der Lichtung. Der Blick der Frau glitt von ihm zu dem Wolf und weiter zu den Bäumen hinter ihnen, als hätte sie dort etwas entdeckt.
»Oh, nein. Nicht schon wieder«, murmelte sie. Dann sagte sie lauter, mit aufgesetzter Heiterkeit: »Nein, Jasper. Hier ist nur eine glatte Stelle auf dem Boden. Hat jemand etwas Kolofonium dabei?« Ihre nervöse Stimme klang seltsam verzerrt und entfernt. Der Glanz ihrer Haut ließ nach, ihre Magie veränderte sich.
Mit zwei riesigen Sprüngen schoss der Wolf auf sie zu. Custo warf sich dazwischen, stieß die Frau zur Seite und brachte sie so in Sicherheit. Der Wolf krachte schwer auf den Rücken, und sie fielen gemeinsam auf den Boden.
Die Luft brannte wie Schnaps in seinen Lungen.
Ohne dass er einen Aufprall spürte, landete er auf einer harten Oberfläche. Das Mädchen wich flink zur Seite aus. Und der Wolf sprang über Custos Kopf hinweg in einen großen leeren Saal, in dem sich rote Samtsitze unter
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