Zwielichtlande
Schultern. Die Hosen waren ein Witz, viel zu kurz; außerdem spannten sie über seinen Oberschenkeln. Ein Grand-plié, und die Nähte würden platzen.
Nur eine Sache konnte sie dazu bewegen, ihre Meinung zu ändern, und es war ihr egal, wenn es albern klang. »Haben Sie kürzlich einen Wolf gesehen?«
Der Mann nickte knapp. »Bei Ihrem Tanz auf der Bühne.«
Mist. In gewisser Weise hatte sie gehofft, verrückt zu sein. Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Sich ein Taxi mit ihm zu teilen, war das Mindeste, was sie für den Mann tun konnte, der sich zwischen sie und den angreifenden Wolf geworfen hatte. Vielleicht konnte er ihr sogar erklären, was vor sich ging.
Sie lockerte den Griff um die Taschenlampe und begegnete dem Blick des Fahrers. »Es ist okay.«
Mit einem Schulterzucken wandte der Chauffeur seine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu, und das Taxi fuhr los.
Der Fremde entspannte sich nicht, ließ sich nicht in den Sitz sinken. Sein Interesse galt ihr – so sehr, dass sie erneut die Taschenlampe umklammerte. Das Licht konnte ihm womöglich nichts anhaben, aber notfalls würde sie ihm mit dem Kolben den Schädel einschlagen.
»Wie heißen Sie?«, fragte er kurz und knapp.
»Annabella«, erwiderte sie wachsam. »Und Sie?«
»Custo.« Er blickte kurz aus dem Rückfenster, dann wandte er sich wieder ihr zu. »Sie sind Tänzerin? Eine Ballerina?«
»Ja.« Und sie kam nicht umhin hinzuzufügen: »Ich bin Erste Solistin im Klassischen Ballett. Und Sie … ?«
»… bringe Sie in Sicherheit. Irgendwohin, wo wir reden können.« Er legte seinen Arm auf die Rückenlehne.
Wohl kaum . Er durfte das Taxi mit ihr teilen, sonst nichts. Aber das musste sie ihm ja nicht sagen. Er war schon angespannt genug.
»Welcher Tag ist heute?«, fragte er.
»Freitag.«
»Welches Datum?«, spezifizierte er angespannt.
»Der 22. Oktober.« Am 23. Oktober war die Galavorstellung, der Beginn der Spielzeit. Ihr großer Tag.
Er runzelte die Stirn, als wäre das immer noch nicht die Antwort, die er erwartet hatte, insistierte aber nicht weiter. »Haben Sie ein Mobiltelefon?«
»Mh … nein.« Eine Notlüge – sie verlieh es nur ungern. Außerdem war es ihr zweiter Rettungsanker. Nicht, dass sie wieder ihre Mutter anrufen und das Leben der armen Frau um weitere zehn Jahre verkürzen wollte. Nein, wenn sie jemanden anrief, dann die Polizei. Vielleicht wegen dieses Kerls.
Custo nahm ihre Tasche vom Boden hoch. Bevor sie ihn daran hindern konnte, hatte er bereits den Reißverschluss aufgezogen. Sie zerrte an dem Riemen – was fiel ihm ein, ihre Sachen zu durchsuchen? Er durchwühlte ihre verschwitzten Tanzsachen, die sie zum Aufwärmen trug, ihre Schuhe. Oh, Mist, ihre Notfalltampons. Sie entriss ihm die Tasche. Das Telefon steckte ohnehin in ihrem Sweatshirt. »Was zum Teufel tun Sie da? Da ist es nicht.«
»Geben Sie mir Ihr Telefon.« Er streckte die Hand aus. »Es ist ein Notfall.«
Sie brauchte ihr Telefon und würde es nicht diesem aggressiven Irren geben. Es war eindeutig ein Fehler gewesen, das Taxi mit ihm zu teilen, aber das konnte sie noch korrigieren. Sie blickte aus dem Fenster, um herauszufinden, in welchem Stadtteil sie sich befand. Direkt hinter New Yorks öffentlicher Bibliothek. Sie hatte ihre Taschenlampe; sie konnte ein anderes Taxi nehmen.
»Verdammt, es ist ein Notfall«, drängte Custo.
Als sie weiterhin zögerte, streckte er die Hand nach ihr aus.
»Okay, okay.« Sie stieß die Hand weg, tastete in ihrer Tasche danach und warf es ihm zu. »Bleiben Sie bloß, wo Sie sind.«
Er fing es auf, und sie wandte sich an den Fahrer: »Ich steige hier aus.«
Das Taxi drosselte die Geschwindigkeit.
Während er eine Nummer eingab, sagte Custo: »Das ist keine gute Idee. Der Wolf ist Ihnen mit Sicherheit auf den Fersen.«
Der Wolf. Bei der Erinnerung an die riesige Bestie mit den funkelnden Augen hämmerte ihr Herz. Ihr auf den Fersen?
»Das ist egal«, sagte Annabella zu dem Fahrer.
Custo stöhnte. Ha! Offenbar hatte er die Mailbox erwischt.
»Adam, Überraschung – hier ist Custo. Ich bin zurück. Weißt du noch, wie wir in Shelby so lange den Strom ausgeschaltet hatten, dass die Uhren stehen blieben? Trau niemandem in Segue, bis du mit mir gesprochen hast.« Custo zögerte. »Ich bin jetzt auf dem Weg zu unserem geheimen New Yorker Lager. Du kannst mich unter dieser Nummer oder in Kürze dort erreichen.«
Seine Nachricht bereitete ihr Kopfschmerzen. Was redete er da für kryptisches Zeug?
Weitere Kostenlose Bücher