Zwielichtlande
gefangen?«
»Sie sind keine Geisel. Sie befinden sich nördlich von New York City, in einer Einrichtung von Segue.«
»Das ist kriminell.«
Talia zuckte mit den Schultern. »Der Präsident persönlich hat uns das Recht eingeräumt, Geister festzunehmen und einzusperren.«
»Ich bin kein Geist«, schoss Annabella zurück. Der Präsident? Der Vereinigten Staaten von Amerika?
»Aber Sie glauben mir.« Talia zeigte wieder ihr müdes Lächeln und zog ihre Hand mit einem zufriedenen Seufzen zurück. »Wollen Sie mir erzählen, wieso?«
Wieso? Als ob sie irgendeine Ahnung hätte, warum die Welt plötzlich so beängstigend verrückt spielte. Erst der Wolf, dann diese surreale Begegnung mit Custo und schließlich die Soldaten, die sie beide aus dem Unterschlupf in der Stadt gezerrt hatten.
Talia hob interessiert die Brauen. »Wie wäre es, wenn Sie damit beginnen, wie Sie Custo begegnet sind?«
»Wie wäre es, wenn Sie mich hier herausließen?«
»Erst Custo«, entgegnete Talia. »Außerdem habe ich Adam versprochen, dass ich Sie nicht aus der Zelle lasse.«
Trotz ihrer Wut musste Annabella lächeln. »Aber Sie haben ihm nicht gesagt, dass Sie vorhatten, mich zu treffen?«
Wieder zuckte Talia mit den Schultern. »Custos Rückkehr hat ihn ein bisschen verwirrt, und da habe ich die Gelegenheit genutzt.«
»Werden Sie Ärger bekommen?« Die Frau schien schon so geschlagen genug. Dass dieser Mistkerl Adam sie noch mehr stresste, hatte gerade noch gefehlt.
»Am liebsten würde Adam mich so anschreien, dass die kleine Ader an seiner Schläfe anschwillt, aber er tut es nicht. Der arme Mann hat es dieser Tage nicht leicht.«
»Der arme Mann? Er hat mich durchsucht. Und zwar überall!« Annabella hob die Brauen, um sicherzugehen, dass Talia sie richtig verstand.
»Glückspilz. Ich wünschte, er würde mich durchsuchen.« Wieder dieses müde Lächeln.
Annabella musterte Talia von oben bis unten. »Sieht aus, als hätte er Sie vor sieben Monaten gründlich durchsucht.«
Talia lächelte breiter, ihre Augen leuchteten. »Das hat er. Unsere verspätete Hochzeitsreise nach Paris war sehr schön. Erzählen Sie mir von Custo, bevor Adam zurückkommt oder mich jemand verpetzt.«
Custo? Wie wäre es zuerst mit etwas Freiheit? Ein wenig angemessener Behandlung?
Annabella begegnete Talias müdem Blick und spürte, wie sich ihr letzter Ärger in Luft auflöste. »Na, gut.«
Sie erinnerte sich an jenen Augenblick, als sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Es war nur ganz kurz gewesen: Die Kostümprobe war wie üblich gut und schlecht verlaufen. Sie hatte gerade ihr letztes Solo begonnen, da tauchte der Wolf auf. Sie hatte das Tier ignoriert und sich gesagt: Wenn er real ist, ist es zu spät zum Wegzulaufen. Und wenn nicht, muss ich mir keine Sorgen machen. Auf der anderen Seite hatte sie Custo, versteckt hinter der Dekoration, entdeckt.
»Er ist aus dem Nichts aufgetaucht«, sagte Annabella. »Im einen Augenblick habe ich allein auf der Bühne getanzt, im nächsten war Custo bei mir und hat mir geholfen, die Wahnvorstellung von einem Wolf zu bekämpfen.«
»Wie bitte?« Talia zog die Brauen zusammen. »Von einem Wolf?«
»Ja. Sie werden mir nicht glauben, aber ich schwöre, es ist die Wahrheit.« Custo hatte ihr geglaubt; vielleicht würde diese Frau ihr ebenfalls glauben. »In der Stadt ist ein riesiger Wolf unterwegs. Er besteht aus Schatten und verfolgt mich seit zwei Tagen.«
Annabella lehnte sich zurück und wartete auf Talias Reaktion. Wenn die Frau nur andeutungsweise ungläubig, herablassend oder amüsiert wirken sollte, würde sie ihr ordentlich die Meinung sagen, ob schwanger oder nicht.
Talia bekam schmale Lippen und wirkte angespannt. »Besteht der Wolf aus Schatten oder existiert er in den Schatten?«
Ihre ernste Miene jagte Annabella einen eisigen Schauder über den Rücken, ihre Kopfhaut kribbelte, und das Blut wich aus ihrem Gesicht. »Es gibt ihn wirklich?«
»Das ist sehr gut möglich.«
Zwei Menschen glaubten ihr. Das bedeutete, dass der Wolf real war und sie wirklich verfolgte. Annabella legte den Kopf auf den Tisch, denn der Raum um sie herum begann sich zu drehen.
»Hier sind Sie sicher«, erklärte Talia. Annabella spürte eine tröstende Hand auf ihrer Schulter. »Wieso berichten Sie nicht von Anfang an?«
Der Jäger kauerte in einer dunklen Ecke und keuchte vor Angst. Widerliche beißende Industriegerüche hingen in der Luft. Fremde Geräusche erschütterten ihn und hallten in einer Welt aus
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