Zwielichtlande
Geiste.
»Annabella kann die Grenze nicht durchlässig werden lassen, aber wenn sie tanzt, kann sie sie beinahe überschreiten. Sie verfügt über eine Magie – die überwältigend ist.« Custo sah wieder vor sich, wie sich ihre strahlende Gestalt durch die dunklen Bäume bewegt hatte. Bezaubernd. »Jedenfalls hat ein Wesen aus den Zwielichtlanden, ein Wolf, versucht, sie anzugreifen. Ich habe mich ihm in den Weg gestellt, und irgendwie sind wir beide mit ihr zurück in die Welt gekommen.«
Adam runzelte eine Braue. »Du willst, dass ich sie vor einem Wolf beschütze?«
»Wir. Ich will, dass wir sie beschützen. Es ist ein Schattenwolf.«
»Wodurch unterscheidet er sich?« Adam stand auf. Zeit zu gehen . Hoffentlich hat Talia nicht ihrem weichen Herzen nachgegeben.
Custo folgte seinem Beispiel. »Er besteht aus Schatten. Er existiert in Schatten. Wir müssen immer auf sie aufpassen.«
Adam machte eine Geste in Richtung Schlitz, es klickte, und mit einem schleifenden Geräusch wurde der Riegel von der Tür entfernt. Custo trat nach vorn, aber Adam legte eine Hand gegen seine Brust und hielt ihn auf. »Ich bin noch nicht ganz überzeugt.« Adams Ton und Miene waren todernst.
Was sollte das werden? Auch wenn das bei einem toten Mann etwas seltsam erscheinen mochte, Custo spürte Hunger. Er wollte etwas essen und mit einem Bier nachspülen. Er wollte die Gelegenheit haben, mit Annabella allein zu sein. Er wollte sich davon überzeugen, dass ihre Haut so seidig war, wie sie aussah.
»Du hast immer Unglaubliches geschafft«, sagte Adam. »Ich habe nichts anderes von dir erwartet, aber ich kann dich nicht guten Gewissens nach einem fünfminütigen Gespräch freilassen.«
»Was für einen Beweis brauchst du?«
»Was hast du zu bieten? Ich sehe keine Flügel.«
»Das ist ein Märchen.«
Adam lächelte und blickte von der nun geöffneten Tür über seine Schulter zu ihm zurück. »Talia sagt, dass die Wahrheit in den Märchen ihre Wurzeln hat.«
Das klang ganz nach ihr.
Custo seufzte. »Ich weiß nicht, wie ich dich überzeugen kann. Außerdem habe ich, anders als Jacob, nicht alle Zeit der Welt.«
Custo wollte wieder leben. Musste wieder leben. Lebensbejahende Handlungen standen ganz oben auf seiner Liste. Er hatte so lange darauf gewartet.
Adam beugte sich leicht nach vorn. »Jacob ist tot und Hunderte von Geistern ebenso.«
»Der Schattenmann?« Custo erinnerte sich an den Augenblick, in dem der Geisterkrieg ausgebrochen war, an jenem Tag hatte Talia ihren Schrei entdeckt. Die Geister hatten den Hauptsitz von Segue in West Virginia angegriffen. Es war unmöglich gewesen zu entkommen. Bis Talia … Er hatte so ein Geräusch noch nie in seinem Leben gehört, es war schön und schrecklich zugleich gewesen, heiter und vernichtend, ein Widerspruch in sich. Sie hatte mit ihrem Schrei ein Loch in den Himmel gerissen, durch das der Tod gekommen war und mit seiner Sense zahlreiche Geister beseitigt hatte. Bevor ihr Vater Jacob erreicht hatte, hatte sie das Bewusstsein verloren.
Wenn Jacob tot war, musste sie wieder ihren Vater gerufen haben.
Adam tat so, als würde er sich in dem Betonloch umsehen, auf seinem Gesicht zeichneten sich Schmerz und grimmige Entschlossenheit ab. »Wir fangen Geister, halten sie hier fest, bereiten uns vor und dann … «
Und dann ruft Talia mit ihrer Trompete den Tod.
Adam ging, ohne sich noch einmal umzusehen. Ich werde tun, was ich tun muss. Ich habe einen Weg gefunden, meinen Bruder umzubringen. Ich kann auch dich umbringen.
Custo ballte die Hände zu Fäusten und erinnerte sich. An jenem Tag hatte der Schattenmann die menschlichen Männer und Frauen verschont. Würde er einen Engel verschonen?
Was machte er mit einem Engel, der ihn betrogen hatte?
5
Annabella knurrte der Magen, während sie darauf wartete, dass die beiden Turteltauben ihren Streit beendeten und sie verdammt noch mal aus ihrem Betongefängnis entließen. Der große wütende Adam schaffte es, sich zu beherrschen, obwohl er Talia, deren schwangerer Bauch gefährlich hervorstand, am liebsten geschüttelt hätte. Die zwei Babys und ihre arme Mutter hatten noch zwei Monate vor sich. Wow.
Ganz bestimmt pochte die Ader an seiner Schläfe, als er auf sie hinabstarrte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Talia lehnte sich zurück und stupste ihn mit ihrem dicken Bauch an. »Ich bin schwanger, nicht krank.«
Annabella musterte die offen stehende Tür; vielleicht konnte sie versuchen zu fliehen.
»Das ist nicht
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