Zwielichtlande
weiter und stieß nicht weit entfernt auf Annabella. Ihre Gedanken bildeten ein einziges Durcheinander. Wahrscheinlich war sie verängstigt, besorgt und wütend. Aber in Sicherheit. Es gab keinen besseren Ort für sie als Segue, für ihren Schutz und für die Lösung ihres Problems. Je eher er mit Adam die Geisterfrage geklärt hatte, desto schneller konnte er sie beruhigen. Er wollte nicht, dass sie sich unnötig ängstigte. Sie war angriffslustig, das gefiel ihm, aber zu zart, um gegen ein Schattenwesen zu kämpfen. Er würde sich um alles kümmern.
In seinem Kopf blitzte ein Bild auf: Annabella, die ihre Beine um ihn schlang, während er tief in sie eindrang, lustvolle Reibung, ihre Herzen schlugen dicht nebeneinander, sein Mund an ihrer Schulter, der süße Geruch ihrer Haut …
Ein heftiges heißes Zischen lenkte Custos Aufmerksamkeit zurück auf seinen Arm. Der Schmerz vertrieb die Fantasie aus seinem Kopf. Er blinzelte heftig und untersuchte seine Wunde.
Geronnenes Blut verdeckte die tiefen Gewebelagen, die klaffende Wunde stand offen wie ein weiter, lippenloser Mund. Doch die Farbe an den äußeren Rändern des Schnittes ging von Dunkelrot in Rosa über, während sich die Haut langsam in Narbengewebe verwandelte. Nur Millimeter, aber Custo war sicher, dass er heilte – und zwar schnell.
Mist. Sein Herz krampfte sich zusammen.
Adam konnte daraus nur einen einzigen Schluss ziehen – dass er einen Geist beobachtete. Und beim Thema Geister war Adam immer sehr entschieden gewesen. Er wollte sie alle umbringen. Custo konnte ihm das nicht verübeln. Adams eigener Bruder, Jacob, war freiwillig zum Geist geworden, hatte sein Menschsein gegen die Unsterblichkeit eingetauscht, dann Adams Eltern umgebracht, sich mit ihren Seelen gestärkt und sich über Adam lustig gemacht, dass er zu menschlich und zu schwach sei, um ihn aufzuhalten. Jacob hätte es besser wissen müssen, hätte wissen müssen, dass Adam nicht zusammenbrechen und ihm die Vernichtung seiner Familie nie vergeben würde. Das Segue Institut war zu einem einzigen Zweck gegründet worden – er wollte einen Weg finden, Jacob zu töten.
Die Hitze in Custos Arm erreichte jetzt seine Knochen, das Zusammenwachsen der Haut schmerzte. Die Heilung verlief nicht annähernd so schnell wie bei den Geistern, die sich in Minutenschnelle von eigentlich tödlichen Wunden erholten, aber sie ging deutlich schneller vonstatten als bei einem normalen Menschen. Also, verdammt, ein Geist.
Custo hob seinen unverletzten Arm, befeuchtete seinen Daumen und entfernte das getrocknete Blut vom Rand der Wunde. Jetzt war ganz offensichtlich, dass er unnatürlich schnell heilte. Die Wahrheit war nicht zu übersehen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, drehte er die sich schließende Wunde dem Schlitz in der Wand zu. »Ich bin kein Geist, Adam. Ich bin ein … « Er verstummte. Noch immer konnte er dieses alberne Wort nicht laut aussprechen. Er stöhnte innerlich, holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Ich bin ein Engel .«
Schweigen. Nicht einmal eine Frage flackerte in Adams Kopf auf.
Custo seufzte. »Ich weiß. Ich weiß. Es klingt absurd. Ich erwarte nicht, dass du mir glaubst, denn ich fasse es ja selbst nicht, aber es ist so. Du kannst es nur herausfinden, indem du mir vertraust. Ich bitte dich, mir zu vertrauen.«
Schweigen.
Jacob hatte Spaß daran gehabt, mit Adams Gedächtnis zu spielen, ihn hereinzulegen und ihn an die Zeiten zu erinnern, als sein Leben noch in Ordnung gewesen war. Custo wollte nicht dasselbe tun, wollte seinen Freund nicht mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit manipulieren. Nicht, dass Adam etwa gerührt gewesen wäre. Er hatte gelernt, nicht auf das hinterlistige Gerede von einem Geist in einer Zelle zu hören, nicht auf die raffinierten Bitten, ihn freizulassen, egal, ob es sich um seinen Bruder oder einen lange verlorenen Freund handelte.
Custo seufzte und ließ den Arm zurück auf die Knie sinken. Er spürte Adams Anwesenheit auf der anderen Seite der Betonmauer, seine strahlende Persönlichkeit. Adam konnte sich keine Fehler leisten. Wenn die Welt nur annähernd so war wie zuvor, konnte Adam auf keinen Fall mit ihm ein Risiko eingehen.
Adam kam zu einer Entscheidung.
Als die Zellentür aufgeschlossen wurde, schob sich Custo nach oben und stand auf.
»Ich will einen Anwalt sprechen. Sie haben kein Recht, mich gegen meinen Willen festzuhalten!«, schrie Annabella dem Schlitz in der Mauer ihrer seltsamen Zelle entgegen. Sie war
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