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Zwielichtlande

Zwielichtlande

Titel: Zwielichtlande Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: E Kellison
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sich im Spiegel. Er durfte sich nicht seinen Sehnsüchten hingeben, also widmete er sich seiner Aufgabe und strich mit dem Schwamm über ihre Haut. Sie spielte das Gespenst einer Braut, die kurz vor der Hochzeit gestorben war, also vertrieb er die Farbe von ihrer Haut. Er löschte den Puls des Lebens von ihrem Rücken und ihren Armen, verteilte das Weiß auf ihren Schultern, bis zu der Mulde unter ihrem anmutigen Hals und dem Tal zwischen ihren Brüsten.
    Er hatte den Kopf geneigt, sodass sich sein Mund dicht an ihrem Ohr befand, und die Arme um ihre Taille gelegt. Mit dünner Stimme sagte sie: »Mein Kostüm hängt auf dem Bügel.«
    Er spürte, wie ihr Herz hämmerte – genau wie seins – und zwang sich, einen Schritt zurückzutreten.
    Sie nahm das bauschige weiße Kleid vom Bügel. Den Rücken ihm zugewandt, das Gesicht in eine Ecke der Garderobe gerichtet, ließ sie die Aufwärmkleidung fallen und zog das Kostüm an. Sie strich das Leibchen an ihrem Körper glatt und kam wieder zu ihm.
    »Würdest du?«, fragte sie.
    Sämtliche Haken und Ösen auf der Rückseite standen noch offen, sie waren zu klein für seine Hände. Er gab sich alle Mühe mit seinen ungeschickten Fingern. Als er wieder den Blick hob, hatte sich Annabella in eine überirdische Braut verwandelt.
    Jemand klopfte an die Tür, rief »Noch fünf Minuten« und ging den Flur hinunter.
    »Jetzt ist es wohl so weit«, sagte sie.
    »Mach dir keine Sorgen«, antwortete Custo. »Tanze einfach.«
    Sie holte tief Luft, atmete aus und erschauderte. »Gehen wir.«
    Von seinem Platz am Rand der Bühne aus hörte Custo das Rumoren des Publikums und vereinzelte schräge Töne aus dem Orchester. Die Agenten von Segue saßen bereits auf ihren Plätzen, andere liefen umher, bis der Vorhang aufging.
    Jens befand sich auf der anderen Seite der Bühne. Er hatte die Uniform von Segue gegen eine schwarze Kombination getauscht, mit der er als Bühnenarbeiter durchging. Nur die Jacke wirkte etwas ungewöhnlich, aber daran konnte man nichts ändern. Er musste seine Waffe irgendwo verstecken. Alle befanden sich auf ihrem Platz. Alle waren bereit.
    Plötzlich verstummte das Orchester. Augenblicklich gingen die Gespräche im Publikum in ein Murmeln über, bis ein allgemeines Zischen ertönte. Die Musik setzte ein, und jedes Instrument spann einen unheimlichen Faden der Geschichte.
    Die anderen Tänzerinnen, verstorbene Bräute, tanzten den ersten Part. Dann leerte sich die Bühne. Plötzlich war Custo von schwer atmenden Tänzerinnen umgeben, die die Vorstellung vom Rand aus verfolgten.
    Ein neuer Satz begann; traurige, romantische Töne erklangen. Annabella erschien auf der Bühne, ein mädchenhaftes Gespenst, eine Wili . Mit ihrem Erscheinen veränderte sich das Licht auf der Bühne, die Farben wurden intensiver, voller Zauber.
    Annabella . Sie war auf der Welt, um zu tanzen. Daran bestand kein Zweifel.
    Sie mischte sich mit den übrigen Wilis und ging mit ihnen auf der anderen Seite von der Bühne ab, während der arrogante, hübsche Jasper die Bühne betrat.
    Schwul , beruhigte sich Custo. Aber es gefiel ihm dennoch nicht, dass irgendjemand Annabella berührte.
    Custo spähte hinüber und versuchte, einen Blick auf sie zu erhaschen, sah aber nur den Zipfel eines weißen Tutus – das konnte Annabella, aber genauso gut irgendeine andere Frau sein. Er versuchte, ihre Gedanken zu lesen und sich davon zu überzeugen, dass es ihr gut ging: ein Schuhband saß zu stramm. Ihr Hals war trocken. Einzelne Gedankenfetzen tauchten aus der Kakofonie von mentalem Geschnatter auf, das von den Tausenden von Menschen im Publikum stammte. Das half ihm nicht weiter.
    Er berührte den Knopf in seinem Ohr. »Jens, wie geht es Annabella?«
    »Es geht ihr gut«, erwiderte Jens. »Sie steht hier neben mir auf ihren Spitzenschuhen, um über die … «
    Custos Kopfhörer knackte. »Oh, Mist«, fuhr Tommys Stimme keuchend dazwischen, im Hintergrund waren Schreie zu hören, Autohupen und ein Zusammenprall. »Geister.«
    Custos Herz setzte aus. »Kannst du das noch einmal sagen?«
    »Eine Gruppe! Das ist eine Falle!« Ein Geist schrie, hoch und schmerzhaft schrill in Custos Kopfhörer. »Er kann sie nicht lange aufhalten.«
    Annabella trat zu Jasper auf die Bühne, wo er an ihrem Grab trauerte.
    »Wer? Wer kann sie nicht lange aufhalten?« Aber Custo kannte die Antwort bereits.
    Auf der Bühne spiegelte das Paar die Bewegungen des anderen – Jasper, stark und weltlich, Annabella leicht und

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