Zwielichtlande
zurücklassen, sondern ihr selbst helfen.
Annabella eilte durch die Eingangshalle. »Wo ist die Aufwärmklasse?«, fragte sie eine gequält aussehende Frau, die einen Berg weißer Tutus trug.
»Im Studio im fünften Stock. Sie fangen gerade an.« In der Bluse der Frau steckte eine Nadel, an ihrer Brust hingen diverse Fäden. Offensichtlich hatte sie etwas mit den Kostümen zu tun.
»Danke«, entgegnete Annabella, eilte zum Fahrstuhl und drückte den Pfeil nach oben.
»Klasse? Du hast keine Zeit für eine Klasse«, sagte Custo vollkommen perplex. Er wollte ihr berichten, dass das Team die Ausgänge des Gebäudes überprüft hatte, sie mit den Mitarbeitern bekannt machen, die sie um Hilfe bitten konnte, und ihr sagen, dass alles gut werden würde und sie ihm nur vertrauen müsse.
Aber das interessierte sie nicht. Der Fahrstuhl hielt mit einem Pling. »Oh, nein, nein, nein.« Sie schüttelte den Kopf, während sie ihren Mantel aufknöpfte. Die Klasse ist unverzichtbar . »Ich muss mich aufwärmen, mich vorbereiten.«
»Aber Anna … «
Sie drückte ihm ihren Mantel in die Arme. »Wenn ich nicht an der Klasse teilnehme, kann ich heute Abend nicht gut tanzen. Und wir beide wissen, dass ich gut tanzen muss .« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Also, finde dich damit ab.«
Sie fuhren im Fahrstuhl zu einer privaten Garderobe, die zum Schutz der anderen Tänzer abseits lag und von Segue gesichert wurde. Annabella ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen und begann sich auszuziehen. »Dreh dich um«, befahl sie, aber erst, nachdem er bereits einen Blick auf ihren verführerischen BH aus purpurroter Spitze erhascht hatte, während sie sich aus einem engen, kornblumenblauen Pullover schälte.
Er drehte sich um, beobachtete sie jedoch weiter im Garderobenspiegel, gierig wie ein Mann bei seinem letzten Mahl: ein blasser, schlanker, nackter Körper. Himbeerfarbene Nippel verschwanden schnell unter einer hautfarbenen Beleidigung weiblicher Unterwäsche. Sein Blick glitt über ihre langen, schmalen Flanken, die in ihrem Po gipfelten, als sie sich nach vorn beugte, und zwei wundervolle glatte Ebenen bis zu ihren Knien bildeten. Als sie in ihrer Tasche gefunden hatte, was sie suchte, und sich aufrichtete, spannte sie leicht die Wadenmuskulatur an. Eine Schönheit.
»Custo!«, rügte Annabella, doch sie grinste schief, während ihr die Röte ins Gesicht schoss. Heute Morgen wirkt er nicht verrückt, dachte sie.
Nein, er war nicht verrückt. Er war verrückt nach ihr, aber er wartete auf eine andere Gelegenheit.
Es kam einem Verbrechen gleich, diesen Körper unter einem schäbigen Trikot, schwarzen Strumpfhosen und einem ausgewaschenen Sweatshirt zu verstecken. Sie griff sich ein Paar neue glänzende Spitzenschuhe aus Satin und medizinisches Klebeband und machte sich auf den Weg durch die Halle zum Studio. Die Tänzer trainierten an Ballettstangen an den Wänden sowie an frei stehenden Barren in der Mitte des Raumes. Eine Frau klatschte einen ganz und gar gleichmäßigen Rhythmus, damit die Tänzer das Tempo hielten.
Während Annabella ihre Position einnahm und ebenfalls tief in die Hocke ging, was die Frau als Plié bezeichnete, berührte Custo das Funkgerät in seinem Ohr.
»Hier ist Jens.«
»Ich bin im fünften Stock. Sie nimmt an einer Art Tanzunterricht teil. Ist Adam schon da?«, schob er hinterher.
»Nein.«
Custo hoffte, dass Talia nicht in den Wehen lag. Die Babys brauchten noch etwas Zeit, bevor sie es auf dieser Welt aushalten konnten.
»Sind alle anderen da?«
»Alle bis auf Tommy«, erklärte Jens.
Custo fluchte. »Such ihn. Sofort.«
»Sch!«
Custo wandte seine Aufmerksamkeit den Tänzern zu, die ihn anstarrten. Annabella schaffte es, während einer sehr interessanten Dehnung kopfüber die Augen zu verdrehen. Er wird noch rausgeworfen , dachte sie.
»Ende«, murmelte er Jens zu.
Der Unterricht wurde fortgesetzt.
Die nächsten fünfundfünfzig Minuten waren eine Offenbarung. Alle Zerbrechlichkeit, die er bei Annabella vermutet haben mochte, verschwand, als er sah, mit welcher Präzision sie ihren Körper ›aufwärmte‹. Die Lehrerin, eine Mittänzerin, führte die Gruppe durch eine Reihe harter Übungen, die es mit jedem Kampftraining aufnehmen konnten, das er je durchgestanden hatte. Dass sie nicht angespannt wirkten, täuschte über die Schwierigkeit der Schritte hinweg, denn sie verdrehten die Füße in überaus unnatürlichen Winkeln. Die Gelenkigkeit war nichts anderes als Gymnastik, aber die
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