Zwielichtlande
Pochen in den glänzenden Augen der Frau sorgte für die Entscheidung.
»Ich kann nicht«, erwiderte sie, obwohl sich ihr bei Zoes Schluchzen vor Mitleid und Schuldgefühlen der Magen umdrehte.
Zoe drängte sich zwischen ihnen hindurch und schob Annabella grob von Custo fort. »Nimm mich. Lass meine Schwester in Ruhe. Sie hat genug durchgemacht. Ich tue alles, was du willst.«
Adam griff Zoe und zog sie zurück. Sie weinte, schwarze Schminke lief ihre Wangen herunter.
»Du kannst die Schatten nicht manipulieren«, erklärte Custo. »Das Wesen will nicht dich.«
Talent war angeboren, und Annabella begriff, dass es sich auf viele Arten zeigte – vermutlich bei allem, was mit Visionen zu tun hatte – , aber man musste viele Jahre opfern, um es zu fördern und zu verfeinern. Man brauchte nur Abigail anzusehen. Ihr fortwährender Austausch mit den Schatten hatte sie viel zu früh an den Rand des Todes getrieben.
»Annabella, bitte«, säuselte die Frau, »du musst mit mir kommen. Bleib bei mir. Du hast vielleicht keine Fallen aufgestellt, aber du hast mich trotzdem gefangen.«
»Nun gut, hiermit lasse ich dich frei«, entgegnete Annabella bitter. »Geh, du Idiot.«
Abigail legte erneut den Kopf zur Seite, lächelte wissend und machte eine Geste mit ihrer verwundeten Hand. Hinter ihr verdunkelten Schatten den Raum und eröffneten den Blick auf eine mondbeschienene Landschaft aus dunklen Rot- und Blautönen mit bedrohlichen Bäumen unter einem wirbelnden Kosmos. So etwas war nur in Geschichten, Mythen oder durch Magie möglich. Es war die Landschaft aus Annabellas Fantasie, sie musste nur ihren Körper dehnen, um durch den dunklen Wald zu schweben und den topasfarbenen Himmel zu streifen. Sie empfand quälendes Verlangen und Sehnsucht. Auch wenn sie sich noch so gleichgültig gab, war das nicht zu übersehen.
Der Wolf gehörte dorthin, musste unter den dunklen Ästen herumschleichen, aber der Körper der alten Frau hielt ihn tatsächlich in der sterblichen Welt fest. Eine einsame blutige Träne lief über die faltige Wange.
»Hat sie Schmerzen? Leidet sie?«, fragte Zoe und befreite sich aus Adams Griff.
Neben Annabella spannte Custo die Muskeln an.
»Der Wolf ist immer noch in ihr«, erwiderte er. »Sie … «
Als Custo den Satz nicht zu Ende sprach, blickte Annabella ihn forschend an. Sein Kiefer war angespannt, jeder der beiden Nasenflügel gebläht, seine Stirn ganz glatt. Was immer er wahrnahm, es musste etwas Furchtbares sein.
Zoe schluchzte. Ihre Schwester litt. Annabella empfand Scham. Es war ihre Schuld, ihr Problem. Vielleicht sollte sie mitgehen. Alles war besser als das Leid, das sie bei Zoe spürte.
»Ach, tut doch etwas«, flehte Zoe. »Holt das Wesen aus ihr heraus.« Sie warf den Kopf gegen Adams Brust und klammerte sich heftig zitternd an ihn.
»Du traust dich nicht«, sagte der Wolf zu Custo, hob die Oberlippe der alten Frau und fletschte die Zähne.
Annabella wurde eiskalt und erstarrte. Sie wusste, dass Custo sich traute. Er hatte schon einmal aus Liebe getötet.
Er trat in den Raum und schob sie wieder fest hinter sich. »Das ist deine letzte Chance«, erklärte Custo der alten Frau. »Lass sie jetzt los.«
»Du bluffst«, entgegnete der Wolf. »Willst du ihr mit deinen strahlenden Händen den zierlichen Nacken brechen?«
Custos Finger zuckten, aber er sagte: »Nein.«
Dann berührte er die alte Frau an der Braue. Von dieser Stelle stieg eine schmale Rauchwolke auf.
Abigail wich zurück, warf den Kopf zur Seite, war jedoch in dem Schaukelstuhl gefangen. Der Wolf mochte stark sein, doch Abigails Körper war gebrechlich. Das Bild der Zwielichtlande hinter ihr löste sich in einzelne dunkle Fahnen auf, und das unvergleichliche Wandbild des Schattenreichs verschwand. Der Wolf fauchte und bleckte die Zähne neben Custos Handgelenk, wurde jedoch in Form einer schwarzen Staubwolke aus dem Körper der Frau gestoßen. Alle erschraken.
Annabella rührte sich vor Angst nicht vom Fleck. War Wolf endgültig fort, oder nur für den Augenblick, oder überhaupt nicht?
Die Wolke aus schwarzem Staub verdichtete sich, die einzelnen Körner wirbelten über Abigails nun schlaffem Körper flüsternd durcheinander. Der Schaukelstuhl quietschte, während er sich langsam vor und zurückneigte. Wölfische, schwarze Punkte verschmolzen zu einem unförmigen Fleck intensiver Dunkelheit, zu einem Schatten ohne Quelle.
Annabellas Herz schlug bis in ihren Hals, sie griff Custos Handgelenk und folgte der
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