Zwienacht (German Edition)
überhörte den Einwand. „Worum geht es in dem neuen Roman? Wieder um die Forensik?“
Richard schüttelte den Kopf. „Nein.“
Der Psychiater stand erneut auf, sah mehrere Sekunden lang aus dem Fenster und schloss es dann.
„In meiner Studienzeit habe ich mich auch mit Serientätern beschäftigt“, fuhr Busch fort und Richard fragte sich, ob der Plauderton, den der Psychiater anschlug, Teil der Behandlung war. „Ich habe wie Sie Straftäter im Gefängnis besucht und Gespräche mit Ihnen geführt. Später arbeitete ich als Therapeut in einer Justizvollzugsanstalt.“
„Warum?“, fragte Richard. Bei seinen Lesungen vor Mördern und Sexualstraftätern hatte er nicht vergessen können, wem er gegenüber saß. Zumeist war er angespannt gewesen und hatte doch immer wieder den Blickkontakt zum Einzelnen gesucht, um sich zu fragen, warum dieser Mann – es waren fast ausschließlich Männer gewesen – im Knast oder der geschlossenen Forensik saß.
Er erinnerte sich an die zwei jungen Burschen, die sich angeboten hatten, zwischen den einzelnen Passagen, die er vortrug, auf ihren Gitarren zu spielen. Während der Lesung wusste er die beiden in seinem Rücken und stellte sich vor, dass sie ihn plötzlich ansprangen und versuchen würden, ihn mit den stählernen Gitarrensaiten zu strangulieren. Aber er war Profi genug gewesen, dass niemandem seine Anspannung aufgefallen war. Niemals hatte ihn jemand angegriffen. Im Gegenteil: Er war immer auf ein besonders aufmerksames Publikum getroffen. Hinterher wurden zahllose Fragen an ihn gerichtet, man wollte ihm die Hand schütteln und gelegentlich bekam er Manuskripte zur Beurteilung überreicht.
In den Anstalten hatten sie alle so viel Zeit zum Schreiben. Die meisten Lebensgeschichten, Gedichte und Romanfragmente hatte er nach kurzem Überfliegen entsorgt. Niemals war es ihm in den Sinn gekommen, einen erneuten Kontakt mit dem Verfasser aufzunehmen.
„Weil ich jung war und an das humanistische Menschenbild glaubte“, vernahm er Buschs Antwort. „Ich war davon überzeugt, ich könne kriminellen Patienten dazu verhelfen, wieder in normalen Bahnen zu denken und zu handeln. Sie sollten ihre eigene Psyche, ihren persönlichen Hintergrund verstehen, um zu erkennen, warum sie ihre Taten begangen haben.“
„Hat das funktioniert?“ Richard fragte sich noch immer, ob das Gespräch zur Behandlung gehörte oder ob Busch versuchte, eine private Unterhaltung mit ihm zu führen.
„Wie kann man das abschließend feststellen?“ Der Psychiater stieß den Atem durch die Nase aus. „Manchmal glaubte ich, durch die Therapie den Tätern nur Ausreden für ihre Verbrechen zu liefern.“
„Sie meinen also, dass Therapien bei Gewalttätern nutzlos sind?“
„Nicht immer, aber bei einigen. Und ich weiß, wovon ich spreche.“
Richard wechselte das Thema. Es war ihm unangenehm. „Wie soll ich mich verhalten, wenn ich wieder eine Wahnvorstellung habe?“
Der Psychiater zögerte. „Nun ... Sie sollten genau prüfen, ob das, was Sie sehen, hören oder auch riechen und schmecken überhaupt real sein kann. Wie zum Beispiel der Anruf einer Katze.“
„Was ist mit diesen Tabletten, die sie mir gegeben haben?“
„Wie gesagt: Wir erhöhen die Dosis. Nehmen Sie ab heute am späten Nachmittag die doppelte Menge ein. Und wenn es Probleme gibt, können Sie mich jederzeit anrufen.“
„Danke.“ Richard unterdrückte die Frage, ob er von nun an Windeln tragen müsse.
Schlieren
Am Abend versuchte Richard sein Ritual durchzuführen. Er schaltete den Computer an und platzierte seine Lieblingstasse neben das Mousepad. Die Tasse war mit einem sehr zornigen Donald Duck bedruckt, der vom vielen Spülen schon ziemlich verblasst war. Zorn, wusste Richard, zeigt sich bei dem Entenhausener Erpel, indem sein Schnabel plötzlich mit Zähnen bestückt ist.
Rechts neben der Tastatur stapelte er ein paar Bücher auf: die Memoiren eines Profilers, kriminologische Handbücher und einen Stadtführer über Dresden. Sein neuer Roman sollte in Dresden spielen. Zwischen den Seiten der Bücher markierten bunte Papierstreifen die für ihn relevanten Passagen.
Auf dem Rückweg von Dr. Busch hatte er kurz an einem Supermarkt gehalten und mehrere Tüten Gummibärchen gekauft. Ihr gesamter Inhalt füllte jetzt eine große Schale neben der Kaffeetasse.
Richard steckte sich ein grünes Gummibärchen in den Mund, starrte kauend auf den Computermonitor und begann das bisher Geschriebene zu lesen. Er war gerade
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