Zwienacht (German Edition)
von seinem Stuhl und betrachtete das Foto aus der Nähe. Er las die fast verblasste Widmung: Für meine liebe Käthe!
Hinter seinem Rücken hörte er das Klicken des Feuerzeugs. Seine Nachbarin rauchte offensichtlich Kette.
Maria kehrte zurück und reichte der Frau ein Glas Wasser und eine gelbe und eine weiße Tablette. Richard erwartete von ihr eine Bemerkung zu der Zigarette, aber Maria zog nur kurz die Augenbrauen hoch und verschwand wieder. Frau Ahrens schluckte die Tabletten und Richard konnte deutlich sehen, wie sie langsam die Kehle der Frau hinabwanderten. Sie hatte das Wasser nicht angerührt.
„Wie war Brecht so als Mensch?“, wollte Richard wissen.
„Waren Sie schon mal hier?“, fragte Frau Ahrens unvermittelt. Die Zigarette wippte lässig in ihrem linken Mundwinkel.
„Wie meinen Sie das?“ Richard verstand nicht, worauf sie hinauswollte.
„Nein. Sie können das nicht gewesen sein.“ Ihr Blick ging über Richard hinweg und fixierte einen Punkt an der Wand an.
Richard fühlte sich plötzlich unwohl und wünschte sich, dass Maria zurückkehrte.
„Wissen Sie“, begann die Nachbarin und lehnte sich so abrupt vor, dass irgendein Gelenk böse knackte. „Hier war jemand.“ Sie richtete ihre Augen noch immer starr auf die Zimmerwand.
„Sie meinen ... hier in Ihrer Wohnung?“ Richard nahm an, dass die Frau innerhalb von Sekunden aus der Realität geglitten war.
Frau Ahrens nickte sehr bedächtig. „Hier gibt es Besonderheiten.“
„Wer soll denn in ihrer Wohnung gewesen sein?“, fragte Richard vorsichtig nach. Er wusste nicht, ob es richtig war, auf ihre Wahnvorstellungen einzugehen.
„Es war ganz dunkel“, wisperte sie. „Ich konnte ihn nur riechen. Er raucht starken, dunklen Tabak. Vielleicht brasilianischen oder kubanischen.“
„Vermutlich haben Sie nur Ihre eigenen Zigaretten gerochen. Kein Wunder bei Ihrem Konsum“, hörte er Marias Stimme. Sie stand in der Tür. Die Teppiche hatten ihre Schritte gedämpft.
„Brecht war impulsiv“, sagte Frau Ahrens und lächelte. Ihre Augen waren wieder klar und fingen Richards verwunderten Gesichtsausdruck ein. „Und er rauchte ein ähnliches Kraut wie mein Besucher.“
Maria ging nicht auf die letzte Bemerkung der Frau ein und begann ihr mit einer Bürste die wenigen verbliebenen Haare zu kämmen. Graue Strähnen blieben in den Borsten hängen. Der Blick der alten Frau wurde mit einem Mal ganz leer.
„Nein, Jakob. Keine Angst“, sagte sie. „Hier werden Sie dich nicht finden. Mein Vater hat vorgesorgt. Es ist ganz, ganz sicher.“
Frau Ahrens schloss die Augen und summte eine Melodie.
Mackie Messer, erkannte Richard.
„Sie wird müde“, sagte Maria leise.
49 Messerstiche
Nachdem er sich von seiner Mutter verabschiedet hatte, wurde er zu Billy. Er konnte die Sache nur als Billy zu Ende bringen, obwohl er Sexualleben und Alltag nicht länger trennen konnte.
Oh ja! Er hatte von dem Fremden aus dem Club Basic gehört. Wohlgemerkt: Nur gehört! Er war bisher eine Stimme am Telefon geblieben. Und diese Stimme hatte gedroht und gefordert. Erst vor weniger als eine Stunde. Billy hatte keine Wahl: Er musste gehorchen. Nur war dieses Gehorchen bar jeglicher sexueller Stimulanz.
Billy zitterte, als er in seinen BMW stieg. Obwohl er auf dem Weg nach Dresden war, verzichtete er heute auf Latex. Das erste Mal seit über drei Jahren.
Warum hatte ihn Carlos beim letzten Besuch im Hinterzimmer mit dem Fremden allein gelassen?
Das Zusammensein mit Carlos und den anderen Gästen war auf den Club beschränkt. Man kannte zumeist nicht die echten Namen und tauschte auch nur in den wenigsten Fällen Adressen oder Telefonnummern aus. So konnte jeder in sein Alltagsdasein zurückkehren, ohne befürchten zu müssen, von seinen Bekanntschaften überraschend kontaktiert zu werden.
Er parkte seinen Wagen wie gewohnt ein gutes Stück vom Club entfernt und versuchte seine Angst zu kontrollieren. Er war sich darüber im Klaren, dass er mit dem Besuch des Clubs ein Risiko einging, denn schließlich war ihm das Aussehen des Fremden, der ihn bewusstlos geschlagen und nun telefonisch seine Forderungen stellte, nicht bekannt.
Billy betrat den Club und verharrte einen Moment im Eingang. Niemals war er zu früher Stunde hier aufgetaucht. Die Sitzecken waren noch verwaist, nur am Tresen drückten sich ein paar Männer herum. Zwei von ihnen kannte er flüchtig. Jeder der anderen konnte der Fremde sein. Gesichter wandten sich ihm zu, um den Neuankömmling
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