Zwienacht (German Edition)
Richard erkannte, dass Marias Kollegin sichtlich unter Stress stand. Da war ein verräterisches Zucken des linken Augenlids. Eine Reaktion, die er auch von sich kannte. Außerdem schwitzte die Frau mehr, als es an einem kühlen Morgen trotz ihres Übergewichts normal gewesen wäre.
Sie hielt ihm einen braunen Umschlag im DIN-A4-Format hin. Ein zweiter, absolut identischer klemmte unter ihrem Arm.
„Morgen, Herr Gerling. Das hier ist für Sie. Von Frau Ahrens.“
Richard erkannte den Umschlag wieder. Maria hatte ihn bei ihrem letzten Besuch bei der Nachbarin dabeigehabt.
„Was ist das?“, fragte Richard.
„Keine Ahnung“, erwiderte die Frau barsch. Plötzlich schloss sie kurz die Augen und atmete tief ein. „Entschuldigen Sie“, sagte sie dann mit ruhiger, fast sanfter Stimme. „Ich habe Sie noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht. Immerhin sind Sie vor unserem Büro ohnmächtig geworden.“
„Besser“, erwiderte Richard und nahm ihr den Umschlag aus der Hand. „Ist mit Maria alles in Ordnung?“
Sie schnitt eine so verzweifelt-komische Grimasse, dass er gleich wieder mit ihr versöhnt war. „Deshalb bin ich ja so ungenießbar. Maria hat sich den Knöchel verstaucht und fällt für mindestens zwei Tage aus. Allein ist die Arbeit einfach nicht zu schaffen.“
„Oh“, machte Richard. „Das tut mir leid. Für Sie beide.“
Jetzt lächelte die Frau sogar ein wenig. „Na ja, es muss halt gehen.“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf den zweiten Umschlag unter ihrem Arm. „Da drin ist das Original von Frau Ahrens. Es sind irgendwelche Pläne. Maria sollte sie in unserem Büro kopieren. Sie sagte, Sie könnten Sie sicher für Ihr neues Buch gebrauchen.“
Für das Buch über die Nazizeit in Mittelsachsen, das es nie geben wird, dachte Richard und schämte sich für seine Lüge. Er wollte es irgendwie wieder gutmachen, dass sich seine Nachbarin, Maria und jetzt auch noch ihre Kollegin umsonst für ihn bemüht hatten und sagte: „Vielleicht kann ich Ihnen bei Frau Ahrens ein wenig helfen. Tee kochen, das Frühstück machen. Ich habe die alte Dame schließlich schon kennengelernt.“
Marias Kollegin zog die Stirn kraus.
„Außerdem kann ich dann fragen, was es mit den Kopien auf sich hat“, fügte er eilig hinzu.
„Na gut“, lenkte sie ein. „Etwas Abwechslung wird ihr gut tun.“
Richard legte den Umschlag neben die Ladestation des Telefons, schloss seine Tür ab und folgte ihr die Stufen hinauf. Die Frau ging zuerst in die Wohnung im zweiten Stock und genau wie Maria, kündigte sie Richards Erscheinen lautstark an. Vermutlich wusste sie aus Erfahrung, dass die alten Leute keine Überraschungsbesuche mochten und daher schreckhaft reagieren konnten.
„Hallo, Frau Ahrens! Hier ist Sybille Naumann. Maria ist leider krank!“ Sie drehte sich zu Richard um und sagte mit gesenkter Stimme. „Sie kennt mich. Ich war schon früher mal hier.“ Und laut: „Ihr Nachbar, Herr Gerling, ist auf einen Sprung mit rein gekommen! Er möchte sich mit Ihnen unterhalten!“
Es erfolgte keine Reaktion.
„Frau Ahrens!“
Die Frau zögerte nicht länger und ging ins Wohnzimmer. Richard sah ihr über die Schulter. Der Raum mit der üppigen Einrichtung war leer. Genau wie die Küche.
„Vielleicht schläft sie noch“, bemerkte Richard. In der Luft hing ein schwacher, aber würziger Tabakgeruch.
Sie schüttelte den Kopf. „Sagt Ihnen senile Bettflucht etwas? Die meisten Alten sind verdammt früh auf den Beinen. Und Frau Ahrens ist zwar vergesslich und etwas wackelig unterwegs, aber ansonsten noch ziemlich fit.“ In ihrer Stimme schwang jetzt Besorgnis mit. „Ich schaue im Schlafzimmer nach. Warten Sie hier.“
Er sah ihr nach, wie sie den Flur entlangging, kurz an die Schlafzimmertür klopfte und sie dann sofort öffnete.
„Frau Ahrens!“, rief sie halblaut, und Richard wusste sofort, dass etwas Schlimmes geschehen war. Er hörte ihre plötzlich sehr eiligen Schritte und dann, wie sie ihren Koffer öffnete und schwer atmete. Richard konnte dem Drang nicht widerstehen. Er spähte durch den Spalt zwischen Tür und Rahmen und konnte nur einen Blick auf das Fußende eines riesigen Doppelbetts erhaschen.
„Wenn Sie kein Problem mit dem Tod haben, können Sie hereinkommen“, hörte er die gefasste Stimme von Sybille Naumann.
Er öffnete die Tür. Die alte Frau sah winzig in dem riesigen Bett aus. Ihr erstarrter Gesichtsausdruck spiegelte für Richard grenzenlose Überraschung wieder. So, als hätte
Weitere Kostenlose Bücher