Zwienacht (German Edition)
mir das an?“ Sie konnte ein lautes Schluchzen nicht unterdrücken. „Bitte! Binden Sie mich los!“
Ihr Flehen traf auf Schweigen.
Ein Feuerzeug flammte auf. Der Mann zündete sich einen Zigarillo an und sie konnte kurz sein Gesicht erkennen. Er saß auf einem Stuhl. Dann war es wieder stockfinster. Bis auf den roten Punkt der Glut, der vor ihr zu schweben schien.
„Sei still. Ich muss jetzt nachdenken“, sagte der Mann. „Es geht hier gar nicht um dich.“
„Dann können Sie mich doch gehen lassen.“
„Nein!“ Der Mann sprach das Wort so entschieden aus, dass sie alle Hoffnung verlor.
Er saß bewegungslos im Dunkeln und sie konnte sein Atmen hören. Tabakrauch hing in der Luft und verdrängte ein wenig den allgegenwärtigen Gestank nach Verfall und Fäulnis.
Maria hatte keine Ahnung, wo der Fremde sie hingebracht hatte. Wenn er sie vergewaltigen wollte, hätte er es schon längst tun können. Oder bevorzugte er es, wenn seine Opfer vor Angst erst wahnsinnig wurden?
Als der Mann aufstand, kratzten die Stuhlbeine über den Boden. Mit einem Klick wurde eine Lampe eingeschaltet. Es war eine alte Bürolampe mit einem runden Schirm. Sie stand neben dem Stuhl und ihr Schein bildete einen ovalen Lichtfleck auf dem Beton, der nicht ausreichte, um dem Gesicht des Mannes Konturen zu verleihen, aber dem Raum eine vage Gestalt gab.
Es schien eine verlassene Lagerhalle zu sein. Ohne Fenster und bis auf den großen Tisch, an den sie gefesselt war, und dem Stuhl mit der Lampe, bar jeglicher Einrichtung.
Weiter hinten, außerhalb des Lichts, lag irgendetwas in der Ecke. Es konnte ein Müllhaufen sein.
Maria verdrehte ihre Augen so weit wie möglich nach rechts, dann nach links. Ihr Kopf steckte in einem rechteckigen Holzrahmen, durch den zu beiden Seiten auf Höhe ihrer Wangen lange Nägel getrieben worden waren. Lang genug, um das Holz zu durchbohren. Die Enden der spitzen Metallstifte waren vielleicht zwei Zentimeter von Marias oberster Hautschicht entfernt.
Der Mann stand jetzt neben ihr und streckte die Hand nach ihr aus.
Es ist soweit!, sagte sie sich, spürte wie ihre Muskeln verkrampften und schloss die Augen.
Das leise Piepen neben ihrem rechten Ohr kannte sie.
Sie öffnete wieder die Augen. Der Mann hielt Maria ein Handy vor den Mund. Ihr Handy. Er musste es aus ihrer Wohnung mitgenommen haben.
„Es ist Zeit für einen zweiten Anruf“, sagte der Mann. „Du wirst Richard Gerling sagen, dass du dir den Knöchel verstaucht hast und dich sehr freuen würdest, wenn er dich besuchen würde. Du kochst etwas Portugiesisches.“
Richard Gerling?
Er hielt das Handy noch immer vor ihren zerschlagenen Mund. Seine Hand zitterte nicht. „Hast du das soweit verstanden?“
Beinahe hätte sie genickt, aber sofort fielen ihr die Nägel ein und sie hauchte nur „Ja.“
„Gut, Kleine.“ Er tätschelte mit der linken Hand ihren Bauch. „Eine Zeit lang war sein Telefon defekt, aber jetzt funktioniert es zum Glück wieder.“
Sie wand sich reflexartig wie eine Schlange unter der Berührung, aber er nahm die Hand sofort wieder von ihr und sah auf seine Armbanduhr. Die Ziffern leuchteten im gleichen Grün wie das Display des Handys.
„Es ist jetzt 14.30 Uhr.“
Mein Gott!, dachte sie. Ich war die ganze Nacht und den halben Tag bewusstlos.
Er schien ihre Gedanken zu erraten. „Nimm es als Schönheitsschlaf, Kleine.“
Sie wartete auf weitere Anordnungen, ohne zu verstehen, was hier passierte.
„Du verabredest dich um 20 Uhr mit ihm.“
Sie rechnete sofort aus, wie viele Stunden bis dahin noch vergehen mussten. Aber dann wurde ihr klar, dass der Termin wohl kaum ihre Freilassung bedeuten würde.
„20 Uhr. Bei dir. Knöchel verstaucht, aber lecker Essen“, fasste er stakkatoartig zusammen. „Kapiert?“
„Ja, aber was ist mit Richard Gerling ...?“, wagte sie zu fragen und wurde barsch unterbrochen.
„Er ist ein Scharlatan. Ein Dieb und ein Scharlatan!“ Zum ersten Mal verlor er einen Teil seiner Beherrschung. Er wurde nicht laut, sondern seine Stimme verwandelte sich in ein animalisches Knurren, dass ihr noch mehr Angst machte, als wenn er gebrüllt hätte.
Sie versuchte irgendeinen Sinn zu erkennen. Was hatte Richard Gerling getan? Ihre aufkeimenden Gefühle für den Mann waren von der Flut ihrer Ängste hinweggespült worden. Sie hatte einfach nicht mehr an ihn gedacht, war mit dem Versuch zu überleben mehr als beschäftigt gewesen.
Ihr war jetzt klar, dass der Fremde ihn töten
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