Zwienacht (German Edition)
wollte.
„Ich werde nun den Anruf freigeben“, sagte der Mann, und dann war es erneut so, als hätte er ihre Gedanken lesen können. „Wenn du auch nur mit einer Silbe versuchst, ihn zu warnen, bringe ich dich nicht etwa um. Es gibt Dinge, die weitaus schlimmer sind.“ Er kniff ihr fest in die rechte Brustwarze, die sich unter ihrer Bluse sofort schmerzhaft verhärtete.
„Was ist, wenn er nicht kommt?“, ächzte sie.
„Er wird kommen.“ Sie war sich sicher, dass er grinste. „Wiederhole, was du sagen sollst.“
Sie sagte die Sätze wie eine eingeschüchterte Schülerin auf.
„Noch etwas!“
Sie wartete atemlos. Das Handydisplay flimmerte vor ihren Augen.
„Wenn er erwähnen sollte, dass die Ahrens aus dem zweiten Stock tot ist, reagierst du professionell.“
Ungewollt stieß sie einen hellen Kiekser aus. Sie zweifelte nicht eine Sekunde lang daran, dass ihr Entführer die alte Frau ermordet hatte.
Er wird uns alle umbringen! Keine Rettung! Keine Rettung! Er ist ein Psychopath!
Und doch wusste sie, dass sie gar nicht anders konnte, als alles zu tun, was der Mann verlangte. Es war das verzweifelte Ringen um jede Minute Leben.
„Warum die alte Frau?“ Sie bereute die Frage sofort.
Nicht fragen! Nicht reizen! Dumme, dumme Maria!
„Die Alte hätte Gerling etwas verraten können, dass er erst ganz zum Schluss erfahren sollte. Wenn überhaupt.“
Er antwortet so bereitwillig, weil er weiß, dass du niemals eine Information weitergeben wirst. Tote, tote Maria!
Es dauerte eine Weile, bis am anderen Ende abgenommen wurde. Richard Gerling hörte sich niedergeschlagen an.
„Hier ist Maria!“
„Oh... Maria!“
Sie bemerkte seinen sofortigen Stimmungswechsel. Die deutliche Freude über ihren Anruf versetzte ihr einen Stich und sie musste schlucken, ehe sie weitersprechen konnte.
Das Gesicht des fremden Mannes kam ganz nahe und sie konnte seinen Atem – eine Mischung aus Nikotin und etwas Fischigem – riechen.
„Ich habe von Ihrer Kollegin gehört, dass Sie sich den Knöchel verstaucht haben“, kam Gerling ihrer vorbereiteten Rede zuvor.
„Es geht schon wieder“, sagte Maria und ihre fast fröhlich klingende Stimme kam ihr falsch, wie ferngesteuert vor. Sie sagte ihren Spruch auf und der Fremde sollte Recht behalten. Richard Gerling sagte sofort zu.
Unter anderen Umständen hätte sie sich gefreut. Sehr gefreut.
Richard Gerling änderte die Tonlage seiner Stimme und räusperte sich. „Sie haben sicher schon von Frau Ahrens gehört?“
„Ja. Es ist furchtbar.“ Sie schauspielerte gut. „Bei den alten Menschen muss man leider jeden Tag damit rechnen.“
Als er aufgelegt hatte, weinte sie.
„Braves Mädchen“, sagte der Fremde und kehrte auf seinen Stuhl zurück, um zu rauchen.
Die Zeit lief ab.
Es gab niemanden, der in den nächsten Stunden nach ihr suchen würde.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. Der Fremde hatte gesagt, Frau Ahrens wäre tot.
Weil sie sonst Richard Gerling etwas verraten hätte.
Maria hatte nicht die geringste Ahnung, um was es sich dabei handeln konnte. Die alte Frau wollte ihrem Nachbarn doch nur bei einem Buch über die Nazizeit behilflich sein.
Die Kopien!
Es waren irgendwelche alten Pläne, die sie sich nicht näher angesehen hatte.
Hatte Sybille daran gedacht, sie bei Richard Gerling abzuliefern? Sie war dabei gewesen, als Maria die Pläne kopiert hatte.
Ja, sie ist absolut zuverlässig!
Sie klammerte sich an diesen Gedanken.
Denn mehr gab es nicht.
Der Brief der alten Dame
Der Tag hat eine neue, freundlichere Farbe. Richard setzte sich wieder an den Küchentisch und dachte trotz seiner Freude über Marias Einladung darüber nach, ob er nicht etwas vorschnell zugestimmt hatte.
Er fühlte sich heute nahezu schmerzfrei, sogar ausgeschlafen und hatte seit längerer Zeit nicht mehr in die Hose gemacht. Das war ein wichtiger Aspekt, denn er stellte sich die peinliche Situation vor, wenn er sich beim Essen mit Maria spontan einnässte.
Sicher, da war immer noch der drohende Verlust von Realität, das plötzliche Auftauchen von Dingen – kopflosen Katern! –, aber er wollte es riskieren um am besten noch zuvor Dr. Buschs Rat einholen.
Ein wenig schämte er sich seiner Aufgekratztheit, schließlich hatte eine Nachbarin erst vor Stunden das Zeitliche gesegnet. Eine Nachbarin, die sich für ihn interessierte und sich sogar die Mühe gemacht hatte, etwas für sein nicht existierendes Buch über die Zeit des Dritten Reichs in Mittelsachsen
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