Zwienacht (German Edition)
nicht wissen, dass das wahre Leben die besten Krimis schreibt.“ Der Mann seufzte tief. „Weißt du, Kleine ... ich habe vorhin eine tote Frau in ihrem Rollstuhl gefunden.“
Maria drückte sich noch tiefer in die Polster.
Der Fremde streckte begütigend die Hände nach ihr aus, berührte sie aber zu ihrer Erleichterung nicht.
„Ich habe der alten Frau nichts getan. Es muss ihr eigener Sohn gewesen sein. Er war mir noch ein paar Gefallen schuldig. Jetzt hat er sich mir wohl entzogen.“
Maria sah ihn verständnislos an.
„Schade. Das ist einer der Gründe, warum ich mir in dieser reizenden Stadt weniger Zeit nehmen kann, als ich eigentlich vorhatte“, sagte der Fremde und deutete mit der Hand auf eine Stelle an der Wand rechts von ihr. „Was ist das denn da?“
Sie wandte automatisch den Kopf zur Seite, gierig nach jedem Moment der Ablenkung, in der er ihr nichts antat. Sie wusste, dass von nun an jede Sekunde geschenkte Lebenszeit bedeutete.
An der Wand hing ein Bild ihrer Eltern. Beide hielten sich an den Händen und lächelten zu ihr herüber. Sie schluchzte und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich von ihnen noch einmal umarmen zu lassen.
Maria saß nun genau so, wie der Mann sie haben wollte. Während sie das Foto anstarrte, visierte er eine Stelle hinter ihrem linken Ohr an und schlug mit der Handkante zu. Nicht so fest, dass das Scheitelbein an ihrem Schädel brach, aber fest genug, dass sie sofort das Bewusstsein verlor.
Er wollte sie jetzt noch nicht töten. Sie diente dazu, den Spaßfaktor zu erhöhen, sagte er sich. Trotz der Eile, die durch das Verschwinden des Psychiaters und dem Tod seiner Mutter von Nöten ist.
Und er wusste: Wenn das alles hier zu Ende gebracht worden war, konnte er mit den Impfungen fortfahren. Es gab noch so furchtbar viel zu tun.
Die Nacht war still. Noch weit nach Mitternacht saß Richard vor dem Computermonitor und recherchierte erneut über Blitzschläge bei Menschen.
Eine kanadische Hausfrau war innerhalb eines Jahres dreimal von einem Blitz getroffen worden. Seitdem litt sie unter Gleichgewichtsstörungen und immer wieder nahm sie ganz plötzlich einen intensiven Orangengeruch wahr.
Richard überlegte, dass er nur zu gerne mit ihr tauschen würde. Was war schon ein unsicherer Gang im Orangenduft verglichen mit dem, was ihm bisher widerfahren war?
Dann fiel ihm ein, wie wunderbar Maria am Morgen nach Vanille geduftet hatte. War es möglich, dass er sich den Geruch auch nur eingebildet hatte? Wie konnte er so etwas herausfinden?
Entschuldigung, Maria. Riechen Sie nach Vanille oder gaukelt mein vom Blitz getroffenes Hirn mir das nur vor?
Es war absurd.
Von Busch war bisher keine Mail eingetroffen. Er würde sich gleich morgen früh wieder auf den Weg zur Praxis des Psychiaters begeben.
Immer wieder sah sich Richard um, horchte nach ungewöhnlichen Geräuschen und hatte erst vor einer halben Stunde in Küche und Bad nachgesehen, ob dort vielleicht irgendetwas – vielleicht ein kopfloser Kater! – aufgetaucht war.
Nach seiner Rückkehr hatte er zunächst die Zeit damit verbracht, nach einem Loch in den Wänden oder im Boden zu suchen, durch das die Ratte geschlüpft war. Aber er fand nichts. Nur einen schwarz-grünen Schimmelfleck hinter dem Schlafzimmerschrank. Er besaß die Größe eines Autoreifens.
Richard beschloss, dass er, sobald er sich besser fühlen würde, nach einer anderen Wohnung umsehen wollte. Die Ruine nebenan steckte das Haus mit Verfall und Fäulnis an.
Es war gegen zwei Uhr, als er in der Wohnung über sich ein lautes Geräusch hörte. Etwas fiel zu Boden und zersplitterte mit lautem Klirren. Richard ging in den Hausflur und lauschte. Einen Moment lang war er versucht, bei Frau Ahrens anzuschellen, um sich zu vergewissern, dass bei der alten Frau alles in Ordnung war. Als es ruhig blieb, kehrte er in seine Wohnung zurück.
Obwohl er sicher war, dass Busch schon längst schlief, überprüfte er noch einmal den Mail-Eingang.
In der Zwischenzeit war nur ein Angebot für ein Potenzmittel zum halben Preis eingegangen.
Weil er nichts Besseres zu tun hatte, nahm er sich noch einmal das defekte Telefon vor. Er schaltete es ein und erhielt kein Freizeichen. Nichts.
Er besah sich den Riss in der Plastikhülle näher, öffnete dann den kleinen Deckel, hinter denen sich die Akkus befanden. Einer der gelben Akkus war aus der Halterung gerutscht. Nur ein winziges bisschen, aber als Richard ihn wieder festdrückte, gab das Telefon einen
Weitere Kostenlose Bücher