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Zwienacht (German Edition)

Zwienacht (German Edition)

Titel: Zwienacht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Raimon Weber
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hielt jetzt in der rechten Hand ein Messer mit einer gewellten Klinge. Maria erkannte es als ihr eigenes wieder. Das Messer hatte in der Küchenschublade mit dem Besteck gelegen. Es war ihr schärfstes. Sie konnte damit tiefgefrorene Butter durchtrennen.
    Maria drückte sich so tief wie möglich in die Polster; die dunklen, fast schwarzen Augen waren weit aufgerissen. Sie führte eine Hand zum Mund und betastete die Wunde.
    „Tun Schie mir nischts! Bitte!“ Es hörte sich an, als spräche sie mit vollem Mund.
    „Pssst!“ Der Mann legte einen Finger vor seine Lippen, ging rückwärts, ohne sie aus den Augen zu lassen und griff nach dem Telefon, das neben dem Anrufbeantworter in einem Fach des Ikea-Bücherregals stand. Er nahm es von der Ladestation und brachte es ihr.
    Sie starrte erst das Telefon an und dann wieder den Fremden. Er war mindestens fünfzig, vielleicht auch sechzig. Sein Körper war trainiert, nahezu ohne ein Gramm Fett. Aber die Jahre hatten Falten in sein Gesicht gegraben. Verstärkt durch zuviel Bräune erinnerte seine Haut an ein altes Ölgemälde.
    Ein Tropfen Blut fiel von Marias Kinn und landete auf ihrem weißen Kittel.
    „Du rufst jetzt bei deiner Arbeit an“, forderte er sie auf. „Und meldest dich krank.“
    Sie starrte ihn nur an. Der Mann hob die Hand mit dem Messer. Maria zuckte zusammen und stieß einen spitzen Schrei aus.
    „Wenn du nicht gehorchst, werde ich dir etwas abschneiden.“
    Maria atmete hechelnd.
    „Möchtest du gehorchen?“
    Sie nickte so heftig, dass ihr das Haar ins Gesicht fiel.
    „Gut. Du musst nämlich wissen, dass ich etwas vom Schneiden verstehe. Es kann sehr lange dauern, bis man daran stirbt.“
    Sie schluckte und ihre zarten Hände bewegten sich wie zwei hektische Vögelchen auf ihrem Schoß.
    „Ruf jetzt an und sage deiner Kollegin, dass du nicht zur Arbeit kommen kannst.“
    Maria nahm das Telefon in die Hand. „Aber ... was habe ich denn für eine Krankheit?“
    „Du hast dir den Knöchel verstaucht“, sagte er und zum ersten Mal lächelte der Mann, aber das Lächeln berührte nicht seine kalten Augen. „Ich glaube, du musst noch nicht einmal lügen. Oder, Kleine?“
    Reflexartig versuchte sie den rechten Fuß zu bewegen. Der Schmerz ließ sie zischend den Atem ausstoßen.
    „Siehst du“, sagte der Mann. „Du kannst morgen früh wirklich nicht zur Arbeit. Du brauchst, sagen wir, zwei Tage Ruhe. Das wird reichen.“ Er umfasste mit der linken Hand ihr Kinn, drückte nur ein wenig zu, aber es reichte aus, dass Maria die Tränen kamen.
    „Und sage nichts Falsches!“
    Maria tippte die Nummer ein.
    „Rede klar und deutlich!“, mahnte er, setzte sich neben ihr auf die Couch und hielt die Klinge über jene Stelle ihres Körpers, hinter der sich die Bauchaorta befand.
    Am anderen Ende der Leitung wurde abgenommen.
    „Hier ist Maria. Ich ... ich ...“, stotterte sie. Die Messerspitze wanderte höher und drückte gegen den Stoff der Bluse. Der Mann nickte ihr auffordernd zu. „Ich habe mir den Knöchel verstaucht“, fuhr sie fort und strengte sich an, die Worte deutlich zu formulieren, obwohl ihr Gesicht jetzt von der Wucht des Schlages anschwoll. „Ich kann nicht mehr auftreten. Es tut mir leid, Sybille.“
    Die Frau am anderen Ende redete so laut, dass der Mann fast jedes Wort verstehen konnte. Sie klang sehr gestresst.
    „Übermorgen bin ich bestimmt wieder fit“, sagte Maria und spürte, wie der Druck der Klinge an ihrer Seite nachließ.
    „Fein gemacht“, sagte der Mann, nachdem sie aufgelegt hatte.
    Das falsche Lob beruhigte Maria nicht. Jetzt, wo sie für die nächsten Tage nicht vermisst wurde, erkannte Maria, dass sie dem Mann ausgeliefert war. Sie steckte im Klammergriff einer so überwältigenden Furcht, dass sie außerstande war, irgendwie zu reagieren. Sie hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen und der Magen lag wie ein harter Stein in ihrem Körper.
    Der Mann zerschlug das Funktelefon auf der Kante des Wohnzimmertischs. Plastiksplitter fielen auf den Teppich.
    „Wie findest du eigentlich Richard Kenning?“, fragte der Mann und grinste sie an. „Möchtest du mit ihm ficken?“ Seine Zähne waren nikotingelb.
    Sie suchte in ihren Gedanken nach einer Antwort, wollte nichts Falsches sagen, den Mann bloß nicht reizen. „Der Name sagt mir nichts“, antwortete sie wahrheitsgemäß und wartete auf eine Reaktion.
    Er warf dem Bücherregal einen abschätzenden Blick zu. „Du liest wohl keine Krimis. Dann kannst du auch

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