Zwienacht (German Edition)
sie niemals damit gerechnet, überhaupt sterben zu müssen.
„Der Tod muss ganz plötzlich gekommen sein“, sagte Marias Kollegin. Sie machte auf Richard keinen abgebrühten Eindruck angesichts der Verstorbenen, aber ihr Verhalten machte deutlich, dass so etwas zu ihrem Beruf gehörte.
Der Oberkörper der Toten lag auf einem Daunenkissen und neigte sich leicht zur Seite. Der linke Arm baumelte schlaff über die Bettkante.
„Aber es hat sie nicht im Schlaf erwischt“, sagte Richard. „Ihre Augen sind auf.“ Er deutete auf die Überreste der Nachttischlampe auf dem Parkettboden. Man konnte anhand der Splitter noch erkennen, dass sie einmal die Form eines rosafarbenen Blütenkelchs besessen hatte.
„Und ich glaube, heute Nacht gehört zu haben, wie die Lampe zu Boden fiel.“
Sybille Naumann musterte kurz die zersplitterte Lampe. „Es könnte ein Herzanfall gewesen sein. Sie bekam einen Krampf und versuchte vielleicht noch aus dem Bett zu kommen.“ Sie zückte ihr Handy. „Ich muss ein paar Anrufe machen.“
Richard blickte sich noch einmal in dem Zimmer um. Er wusste selbst nicht, wonach er eigentlich suchte.
Und es gab auch nichts Ungewöhnliches zu entdecken, denn das Ableben einer alten Frau war wohl leider normal.
Richard verabschiedete sich und kehrte in seine Wohnung zurück. Der Tag hatte für ihn zunächst viel versprechend begonnen, doch der Tod der Nachbarin ließ seine Stimmung umschlagen. Er fühlte sich zutiefst deprimiert, obwohl er die alte Frau kaum gekannt hatte.
Nach einer Weile tauchte der Notarzt auf. Wenig später hielt der Wagen eines Bestattungsunternehmens vor dem Haus.
Als der Metallsarg mit der Toten herausgetragen wurde, hatte sich vor dem Eingang eine kleine Menschenmenge versammelt. Richard entdeckte unter den Leuten das Rentnerehepaar Sandow samt Dackel, die junge Mutter aus der gegenüberliegenden Wohnung von Frau Ahrens hielt ihr Baby, eingewickelt in eine Decke, auf dem Arm. Neben ihr stand eine der Frauen aus der Dachwohnung. Als der Leichenwagen abfuhr, zerstreute sich die Menge. Er hörte, wie sich die Hausbewohner leise im Flur unterhielten und dann in ihre Wohnungen zurückkehrten.
Richard machte sich eine Tasse Instant-Kaffee und setzte sich an den Küchentisch. Er brauchte einen Moment der Ruhe, ehe er zu Dr. Busch fuhr.
Mit einem Mal kamen ihm seine eigenen Probleme gar nicht mehr so überwältigend vor. Immerhin war er noch am Leben.
Fixiert
Maria Couto dos Santos kam wieder zu sich, aber sie war sich ihres Wachzustands nicht bewusst. Ringsum herrschte Finsternis. Minutenlang lag sie mit aufgerissenen Augen, ehe sie merkte, dass sie wach war. Als sie den Kopf zur Seite wandte, verspürte sie einen heftigen Schmerz. Irgendetwas hatte sie in ihre rechte Wange gestochen. Sofort erschien in ihrer Fantasie das Bild des brutalen Fremden, der jetzt neben ihr in der Dunkelheit ausharrte und sie mit der Spitze des Messers verletzt hatte. Sie verhielt sich ganz still und lauschte. Die Schwärze war ohne Geräusche.
Sie konnte den Kopf nicht anheben. Sie spürte einen dünnen Draht, der ihr in den Hals schnitt. Maria versuchte Arme und Beine zu bewegen. Sie war noch immer gefesselt. Ein weiteres Seil war um ihren Oberkörper geschlungen worden, so dass sie nicht aufstehen konnte. Das Seil hielt sie am Untergrund fest. Sie stellte sich vor, dass sie vielleicht auf einem Tisch lag.
Ganz vorsichtig wandte sie den Kopf zur anderen Seite. Sofort bohrte sich ein sehr spitzer Gegenstand in die linke Wange.
Sie war fast bis zur Bewegungslosigkeit fixiert worden. Sie unterdrückte die Tränen, die ihr in die Augen schossen.
Denk nach! Panik hilft dir nicht weiter! Denk nach!
„Hallo“, sprach sie leise in das Dunkel. Das Wort hallte nach. Der Raum musste groß sein. Und offensichtlich war sie allein. Das gab ihr ein ganz klein wenig Hoffnung.
Es war kalt, aber sie fror nicht allzu sehr, da sie noch immer ihre Kleidung anhatte. Diese Feststellung half ihr auch ein bisschen. Er hatte sie nicht ausgezogen und demzufolge auch nicht angefasst.
„Hallo!“, wiederholte sie. Diesmal lauter.
„Hiiiilfe!!!“ Sie hatte mit aller Kraft geschrien. Die anschließende Stille dröhnte in ihren Ohren. Sie hoffte auf irgendeine Reaktion.
„Versuch das nicht noch mal.“
Die Stimme war aus unmittelbarer Nähe gekommen. Maria erschrak so sehr, dass sie den Kopf zur Seite riss. Die Spitze drang tief in ihre Haut ein. Jetzt ließ sie ihren Tränen freien Lauf.
„Warum tun Sie
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