Zwilling verzweifelt gesucht
“
Ich nicke und fische mir einen Schokoriegel aus dem Schrank, nur um zu überprüfen, ob sie reagiert. Schokoriegel als Pausenbrot sind streng verboten. Aber sie beachtet mich gar nicht. Ich bin so unwichtig, dass sie sich nicht einmal für meine Ernährung interessiert. Wenn man sie so sieht, könnte man fast glauben, dass sie meine Schwester einfach weggegeben hat. Diese Frau ist manchmal einfach vollkommen überfordert.
Als ich schon vorne an der ersten Ecke bin, drehe ich mich noch einmal um und mustere unser Haus, als sähe ich es zum letzten Mal. Also gut, es sieht heruntergekommen aus. So werden es die Leute einschätzen, die sich diese Fernsehsendung reinziehen. Die werden nicht auf die bunten Steinmännchen achten, die meine Brüder und ich im ganzen Garten verteilt haben, nicht auf Mamas Keramikvögel, nicht auf ihre exotischen Gemüsepflanzen, nicht auf Papas katzensichere Nistkästen und die Windsäcke in allen Farben des Regenbogens. Sie werden nur sehen, dass der Putz bröckelt, dass einige Dachziegel fehlen, dass unsere Satellitenantenne rostet, dass eine alte Schubkarre und zwei ausgebaute Fenster herumstehen, obwohl die von den Brennnesseln schon fast überwuchert sind. Sie werden zu dem Schluss kommen, dass wir arme Leute sind, und wenn ich Pech habe, bringt mir mein Klassenlehrer aus purer Nächstenliebe demnächst Pausenbrote mit, natürlich megagesundes Vollkornbrot mit Kresse-Sprossen drauf oder so etwas.
Der Unterricht zieht sich heute noch länger als gewöhnlich.
„ Bis du nach Hause kommst, ist doch sowieso alles vorbei “ , behauptet Alisia.
Heute macht sie mich mit ihrer ruhigen Art ganz kribbelig. „ Die brauchen ja nicht auf dich zu warten. “
„ Aber auf Finn und Fabian müssen sie warten “ , widerspreche ich.
Und tatsächlich, als ich vor dem Haus eine Vollbremsung hinlege und mein Fahrrad fallen lasse, sind die Fernsehleute eben erst angekommen. Mama spricht kaum noch ein Wort, weil sie während des stundenlangen Wartens so viele Tassen Baldriantee getrunken hat. Dafür redet Papa in fünf Minuten so viel wie sonst an einem ganzen Tag. Leider würdigen die Fernsehleute diese Leistung kein bisschen, weil sie so mit dem Aufstellen von Scheinwerfen und dem Einrichten von Mikrofonen beschäftigt sind.
Jule und Jana haben doch noch mal eine Runde geschlafen und sind jetzt in Bestform. Sie stellen sich vor jedem in Pose, der das Haus betritt, egal, ob er mit Scheinwerfern oder Kisten beladen ist.
„ Filmst du mich jetzt? “ , fragen sie dabei.
Ich ziehe sie aus dem Weg, bevor sie von einer Kiste erschlagen werden.
„ Es fängt doch noch nicht an “ , zische ich. „ Die müssen erst aufbauen. “
„ Wo sind hier die Steckdosen? “ , erkundigt sich ein junger Mann mit Hornbrille und Eintagebart.
Mama sieht ihn nur wirr an, als wüsste sie gar nicht, was um alles in der Welt eine Steckdose sein soll. Papa redet jetzt auf den Moderator ein, der von Zeit zu Zeit wie ein defekter Automat ein kurzes „ hmm “ ausstößt und wohl nicht zuhört. Eine junge Frau trägt den schreienden Robin auf dem Arm hin und her und macht dabei ein vollkommen ratloses Gesicht.
Gerade als alle Vorbereitungen getroffen sind, stürmen die großen Jungs ins Haus. Sie sind den ganzen Weg gerannt, ihre Gesichter leuchten rot, die Haare kleben ihnen am Kopf. Sie platzen in den Flur und bleiben dann stehen, als hätte jemand den Stecker rausgezogen.
„ Tag “ , murmelt Finn und sieht zu Boden.
„ Tag “ , murmelt Fabian und mustert die Decke.
„ Maske! “ , ruft die junge Frau und drückt Fabian kurzerhand den noch immer schreienden Robin in die Arme. Robin verstummt sofort und strahlt seinen großen Bruder an. Wenn die beiden seine Vorbilder sind, dann kann es bei uns noch viel lustiger werden.
Jetzt tritt der Regisseur in Aktion. Er tätschelt den Jungs die Schultern, reißt zwei, drei schlechte Witze und verkündet dann, dass alle zur Besprechung ins Wohnzimmer kommen sollen. Die Jungs setzen sich in Bewegung, die Maskenbildnerin trottet zögernd hinterher. Ich will ihnen folgen, aber der Regisseur wirft mir einen irritierten Blick zu.
„ Du nicht “ , sagt er. „ Nur die Zwillinge. “
Und das ist meine Chance!
„ Ich habe natürlich auch eine Zwillingsschwester! “ , erkläre ich.
Er mustert mich mit gerunzelter Stirn. „ So? Wo ist sie denn? “
„ Das weiß ich eben nicht. Leider. Deswegen müssen Sie mir helfen. Wenn Sie im Fernsehen … “
„ Was machen
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