Zwilling verzweifelt gesucht
Schicksalsergeben schlägt sie das Notizbuch wieder auf.
„ Und wo fangen wir an? Mit unseren Forschungen, meine ich? “
„ Bei unserer Geburt natürlich. “
Ich ziehe ein Kaugummipäckchen aus der Hosentasche und halte es Alisia hin. Kauen hilft beim Denken, habe ich gelesen, und wir können im Moment wirklich jede Hilfe gebrauchen.
„ Du brauchst deine allerersten Babybilder “ , sagt Alisia. „ Und deine Geburtsurkunde natürlich. Und so was. “
„ Ich frage meine Mutter danach, wenn sie mal Zeit hat “ , verspreche ich mutlos.
Mama sagt immer: „ Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich. “
Es könnte ja sein, dass die Babys bald friedlich schlafen, Jule und Jana einträchtig mit ihren Playmobil-Vampiren spielen, Finn und Fabian sich gegenseitig nerven, anstatt die anderen zu ärgern, und Papa gerade keine Spax-Schrauben sucht und vielleicht ein Außerirdischer ans Fenster klopft und meinen Eltern anbietet, er könnte mal kurz übernehmen, sie sollen fünfzehn Minuten ausspannen. In diesem Fall könnte es tatsächlich sein, dass ich von Mama eine Antwort auf meine Fragen bekomme.
Erst als meine Eltern anfangen, die Fenster zu putzen, die leeren Kartons zum Container zu tragen, die zum Trocknen in allen Zimmern aufgehängte Wäsche einzusammeln und den Hunden das Pfötchengeben beizubringen, wird mir klar, dass eine Schicksalswende mir zu Hilfe kommen wird. Ich habe gar nicht mehr daran gedacht – und Alisia deswegen auch nichts davon erzählt: Ein Fernsehteam hat sich bei uns angemeldet.
Leute von der Zeitung schneien bei uns öfter mal vorbei. Für die putzen Mama und Papa die Fenster längst nicht mehr. Sie schieben vielleicht noch schnell mit der Fußspitze eine Rassel unters Sofa, schließen die Tür zum Bad ganz fest und packen alles schmutzige Geschirr in die Spülmaschine.
Das Fernsehen kommt zum ersten Mal und alle sind aufgeregt. Ich auch! Denn das kann meine Chance sein.
„ Könntest du vielleicht mal was helfen? “ , meckert Papa. „ Mir die Tür aufmachen oder so? “
Er hält in jeder Hand fünf leere Saft-, Öl- und Weinflaschen und hat sich dazu noch einen Stapel Pizzaverpackungen unter den Arm geklemmt. Bei uns gibt es nicht so oft Pizza. Das ist zu teuer für so viele Leute, aber manchmal machen meine Eltern doch eine Ausnahme. Das Fernsehteam darf offenbar keine Pizzakartons sehen.
Ich nehme Papa ein paar Flaschen ab und begleite ihn zu den Müllcontainern, die zwei Ecken weiter unter der hohen Haselnusshecke am Parkplatz stehen. Ich werfe gerne Flaschen in den grünen Flaschencontainer. Es ist so, als würde man einen grünen Seelöwen im Zoo mit klirrenden Fischen füttern.
„ Weißt du eigentlich, wo meine Babyfotos sind? “ , frage ich so ganz nebenbei auf dem Rückweg.
Papa runzelt die Stirn. „ Die hast du doch. Du hast doch so ein Album. “
„ Nein, ich meine alle. Vor allem die ersten. Die allerersten. Vom Krankenhaus. “
Papa bleibt stehen und überlegt. Ich sehe ihm an, dass er im Kopf gerade alle seine Kinder nach Alter, Geschlecht und Geburtstermin sortiert. Endlich ist er bei mir angekommen und seufzt tief.
„ Es gibt keine Bilder von dir aus dem Krankenhaus. “
Was? Das ist verdächtig. „ Warum hast du keine gemacht? “
„ Hab ich, hab ich natürlich. Aber dann ist mir der Fotoapparat runtergefallen. “
„ Was? “
Papa zuckt mit den Schultern, er grinst verlegen. „ Als du nach Hause kamst, war der Bär los. Deine Brüder – du kannst dir die beiden vielleicht vorstellen, mit anderthalb Jahren … das ganze Haus lag voller Spielzeugautos und Duplo-Steine … na ja, und dann habe ich fotografiert, wie du auf dem Sofa liegst … “
Er hält sich einen unsichtbaren Fotoapparat vors Auge, visiert etwas ebenso Unsichtbares an, zögert, macht einen Schritt rückwärts und wedelt erschreckt mit den Armen. Mein Vater wäre ein grandioser Schauspieler. Wer weiß, vielleicht wird er jetzt endlich entdeckt, wo doch die Fachleute vom Fernsehen kommen.
„ Ich bin jedenfalls rückwärts über den Duplo-Turm gefallen “ , sagt er. „ Oder waren es noch die richtigen Bauklötze aus Holz? Ich weiß nicht. Ich hätte mir den Hals brechen können, aber dann ist nur die Kamera auf den Boden geknallt und alle Fotos waren futsch. Alle Fotos aus deinen ersten zwei Lebenswochen. Tut mir leid. Wirklich. “
„ Das ist ja doof “ , sage ich.
„ Ja, doof. “
„ Wie habe ich denn ausgesehen? “
Wieder zuckt mein Vater mit den
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