Zwilling verzweifelt gesucht
Svenjas Schwester ist tot. “
Ich schlucke: „ Das glaube ich nicht! “
Mama: Heb das sofort auf!
Jana: Ich war das nicht! Das war Jule!
„ Wir müssen an alle Möglichkeiten denken “ , sagt Alisia streng. „ Leider. “
Sie fängt wieder an zu schreiben.
„ Drittens: Svenjas Schwester ist verloren gegangen. “
Ich runzle die Stirn.
„ Wie kann ein Baby verloren gehen? “
Papa: Hat jemand den Kreuzschlitzschraubenzieher gesehen?
Mama: Ich kann jetzt nicht.
Finn: Fabian hat ihn gehabt.
Fabian: Finn hat ihn gehabt.
Jule: Warum darf ich Robin nicht die Windel anziehen?
(Ich verzichte von hier an auf die Gespräche im Hintergrund, sonst kommen wir nie weiter).
„ Man kann ein Baby überall verlieren. Es irgendwo stehen lassen. Im Supermarkt zum Beispiel “ , erklärt Alisia geduldig. „ Oder auf einem Autobahnrastplatz. “
„ Quatsch! “
Manchmal geht Alisias Fantasie mit ihr durch. Man lässt doch ein richtiges Kind nicht irgendwo liegen wie ein Handy!
„ Na gut “ , murmelt Alisia. „ Dann nehmen wir mal an, dass diese Möglichkeit ausscheidet. “ Sie lässt den Stift zwischen den Fingern hin und her schnappen, streicht dann die Nummer drei wieder aus. „ Dann haben wir nur noch eine übrig. Nämlich, dass sie geklaut worden ist. Entführt. “
„ Wer klaut denn Babys? “
„ Das kommt vor “ , behauptet Alisia. „ Hab ich schon mal gehört . “
„ Im Fernsehen. “
„ Klar, im Fernsehen. “
Alisia schreibt in ihrer sehr ordentlichen Schrift: „ 3. Svenjas Schwester ist entführt worden. “
Sie unterstreicht diesen Satz dreimal mit dem Lineal. Alisia hat die schönsten Schulhefte in der ganzen Klasse. Sie schreibt Überschriften in einer anderen Farbe, meistens in Türkis oder Rosa, vergisst niemals das Datum und unterstreicht alles, was wichtig ist, einmal, und alles, was megawichtig ist, zweimal.
Ich starre auf diesen Satz.
„ Ist das wirklich die einzige Möglichkeit? “
„ Ja “ , bestätigt Alisia ohne einen Moment des Zögerns.
Dann denkt sie doch noch nach und ich denke auch nach, aber uns fällt wirklich keine andere Möglichkeit mehr ein. So einfach ist das.
Alisia nimmt ihren türkisfarbenen Stift aus dem Mäppchen und schreibt unter ihre drei Punkte mit geschwungenen Buchstaben:
„ Wo ist S2? “
„ Was ist S Zwei? “ , frage ich und fühle mich sehr dumm.
„ Überleg doch mal. “
Ich kenne die S-Bahn-Linie S2 aus Frankfurt, mit der sind wir schon mal gefahren. Aber was die jetzt mit unserem Plan zu tun haben soll, ist mir schleierhaft.
„ Was meinst du denn, wie deine Schwester heißt? “ , fragt Alisia betont geduldig.
„ Keine Ahnung. “ Aber dann dämmert es mir. „ Du meinst, irgendwas mit S vorne? “
„ Genau. Du bist S Eins und sie ist S Zwei, kapiert? Das ist unser Codename für deinen Zwilling. “
„ Cool! “
Ich bin beeindruckt. Alisia ist ein Bond Girl. Sie schüttelt sich lässig eine Haarsträhne aus der Stirn, die dort gar nicht hängt.
In diesem Moment geht die Tür auf und meine Familie ergießt sich in einem Schwall in mein Zimmer, allen voran die beiden Hunde, dahinter Jana und Jule, beide mit schokoladenverschmierten Mündern, und ganz am Schluss Finn und Fabian.
Alisia klappt ihr Notizbuch schnell zu und presst es gegen ihre Brust.
„ Ist was Besonderes? “ , erkundige ich mich.
Aber meine Geschwister veranstalten nur eine ihrer üblichen Verfolgungsjagden, die aus irgendeinem Grund in einer Schleife durch mein Zimmer führt. Drei Sekunden später sind sie alle wieder verschwunden. Alisia sieht ihnen bewundernd nach.
„ Bei euch ist echt immer etwas los “ , stellt sie fest. „ Und du meinst wirklich, es wäre besser, wenn du noch eine Schwester hättest? “
„ Sie gehört nun mal dazu “ , bestätige ich. „ Das kann man sich ja nicht aussuchen. “
Alisia sieht mich einen Moment lang rätselnd an, dann wendet sie den Blick ab und tippt sich mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze. Ich kenne sie lang genug, um zu wissen, dass ihr gerade etwas Unerfreuliches durch den Kopf geht.
„ Was ist? “ , forsche ich nach.
„ Ich hab nur was gedacht “ , sagt sie, als wäre das bei ihr etwas Besonderes. Ist es aber nicht. Alisia denkt ununterbrochen irgendetwas, sie kann gar nicht anders.
„ Und? “
Sie zögert, aber dann spricht sie es doch aus.
„ Wenn du S Zwei gefunden hast, brauchst du mich eigentlich nicht mehr! “
„ Quatsch! “
Aber sie glaubt mir nicht.
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