Zwilling verzweifelt gesucht
Oder Urkunden. Oder was weiß ich. “
Ich sause schon die Treppe hoch. Das Büro ist nicht mehr als ein kleiner Aktenschrank, den Papa so ins Treppenhaus gequetscht hat, dass man ihn kaum sieht. Er sagt, er kriegt schlechte Laune, wenn er öfter als nötig seine Aktenordner ansehen muss.
Ich entdecke drei Ordner, auf denen „ Familie “ steht. Den mittleren ziehe ich hervor und finde darin die Geburtsurkunden aller meiner Geschwister. Meine ist nicht dabei und ich entdecke sie auch nicht in den anderen Ordnern. Ich stelle alles wieder weg, renne die Treppe runter und zurück in die Küche. Mama knabbert eben an einer Riesenkarotte.
„ Ist nicht da. Die Urkunde. “
„ Komisch. Na ja. “ Mama wedelt mit der Karotte. „ Ist aber auch nicht so dringend, oder? “
„ Nein. Natürlich nicht. “
Hm. Rätselhaft. Verdächtig! Was Alisia wohl dazu sagen wird?
„ Rätselhaft. Verdächtig! “ , sagt Alisia, als ich ihr von der verschwundenen Geburtsurkunde berichte.
Woran man wieder einmal erkennt, wie gut sie sich als meine Zwillingsschwester eignen würde. Alisia hat sich aus dem Fernseh-Korb eine Rolle Kaubonbons ausgesucht, mit Fruchtaroma. So ungefähr drei Viertel der Gaben aus dem Geschenkkorb haben Fruchtaroma. Die haben doch wenigstens an uns Kinder gedacht!
„ Also dann müssen wir eben im Krankenhaus nachfragen “ , erklärt Alisia. Sie runzelt die Stirn und pult mit dem Nagel des Zeigefingers ein Fruchtbonbon von ihrem Gaumen. Bei allen anderen Menschen fände ich das eklig, aber Alisia verzeihe ich alles.
„ In welchem Krankenhaus denn? “ , frage ich verblüfft.
„ Na, da, wo du geboren bist “ , erklärt Alisia.
„ Es gibt doch hier nur eins. “
„ Eben. “ Alisia lutscht mit genießerischer Miene ihren Fingernagel sauber. Dann springt sie aus dem Schneidersitz wie ein Gummiball direkt auf die Füße. Irgendwann muss sie mir das beibringen.
„ Wo willst du hin? “ , frage ich.
„ Ins Krankenhaus. “ Sie hält mir die Hand hin, und als ich danach greife, zieht sie mich hoch.
„ Okay “ , stimme ich zu, aber nur, weil ich nicht zugeben möchte, dass ich mich eigentlich nicht traue, einfach so in ein Krankenhaus zu gehen. Schon gar nicht, wenn ich gar nicht krank bin und niemanden besuchen möchte.
Das Städtische Krankenhaus ist nicht zu übersehen. Es handelt sich um den hässlichsten Bau in der Stadt, und jeder, der ihn erblickt, fühlt sich sofort ordentlich krank … auch wenn er eigentlich nur einen kranken Freund oder Onkel besuchen wollte. Ich habe meine Mutter immer hier besucht, wenn neue Zwillinge zur Welt gekommen sind. Und obwohl die Pfleger in der Säuglingsstation sehr nett waren, habe ich jedes Mal beim Verlassen des Krankenhauses tief aufgeatmet und mich selbst ein bisschen wie neu geboren gefühlt. Daran kann ich mich genau erinnern.
Alisia dagegen betritt das Krankenhaus zum ersten Mal. Sie hat keine kleinen Geschwister und auch keine Verwandtschaft in der Stadt, die krank werden könnte. Neugierig sieht sie sich in der Eingangshalle um. Es ist gerade nicht sehr viel los, nur ein paar Gestalten in Bademänteln arbeiten sich mit schleppenden Schritten in Richtung Café vor. Eine Großfamilie steht ratlos vor dem Wegweiser, der neben dem Lift angebracht ist. Ein Arzt im weißen Kittel stößt eine Tür aus mattem Glas auf und verschwindet mit schnellen Schritten.
Ich kenne den Weg zur Säuglingsstation noch, schließlich sind Robin und Rasmus erst ein Jahr alt. Hoffentlich arbeitet der nette schwarzhaarige Pfleger noch hier, der mir damals die Packung Gummibärchen geschenkt hat – vor dem habe ich wenigstens keine Angst. Leider spricht er wenig deutsch und wird vermutlich überhaupt nicht verstehen, welche Informationen wir brauchen.
„ Wir hängen uns an eine andere Familie dran “ , zischt Alisia. „ Dann denken die Pfleger, wir gehören dazu. “
Alisia hat schon sehr viele Filme gesehen, in denen Leute andere Leute austricksen. Ich möchte einwenden, dass sich jemand auf der Station vielleicht an mich erinnern könnte, aber dann schweige ich doch. Sehr wahrscheinlich ist es ja nicht, dass sich einer an mich erinnert. Hier laufen jeden Tag neue Familien ein, und ich selbst bin ja noch nicht einmal ein Zwilling, der jemandem auffallen könnte.
Als eine dicke Frau mit einem kleinen Jungen an der Hand die Treppe heraufkeucht und auf den Türöffner drückt, gelangen wir in ihrem Windschatten auf die Station.
„ Stell dir einfach vor, du willst
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