Zwilling verzweifelt gesucht
nichts erschüttern kann.
Der Pfleger zögert, sieht sich um, zieht mich dann etwas zur Seite. Alisia klebt sozusagen an mir dran.
„ Nicht solange ich hier bin “ , erklärt er. „ Jetzt wird gut aufgepasst. Aber früher ist so etwas wohl schon vorgekommen – das wird jedenfalls erzählt. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Nicht nur einmal. Es ist lange her, zehn Jahre vielleicht. “
„ Elf? “ , frage ich atemlos.
Er zuckt mit den Schultern.
„ Wir sollen nicht darüber reden “ , wispert er.
Alisia und ich nicken verständnisvoll.
„ Und wie kriegen wir raus, wann genau das passiert ist? “
„ Es stand bestimmt in der Zeitung. “
Alisia sieht mich an, ich sehe Alisia an. Wie gut, dass es das Internet gibt! Im Internet findet man noch Nachrichten, die ungefähr aus dem Mittelalter stammen.
Aus der Säuglingsstation ist jetzt die Stimme der muskulösen Stationsschwester zu hören. Ich verstehe nichts, außer dass sie sehr schlecht gelaunt ist.
„ Ich gehe mal die Schwester beruhigen “ , sagt unser Pfleger zuversichtlich. Er zwinkert zum Abschied und trabt ebenso beschwingt wie zuvor auf das Gezeter zu.
Alisia sieht ihm nach. „ Der ist ja total nett! “ , stellt sie hingerissen fest. „ Also, ich kriege meine Kinder später auf jeden Fall auch hier! “
Dazu muss man wissen: Noch vor einem halben Jahr haben wir uns geschworen, dass wir niemals heiraten und schon gar keine Kinder kriegen, sondern immer zusammenbleiben und höchstens jede einen Hund halten werden!
Alisia ist sehr zufrieden mit der Geschichte, die wir von unserem Pfleger gehört haben. Ich eigentlich auch. Vor meinem inneren Auge läuft jedoch wie eine Endlos-Wiederholung die Szene ab, in der er uns zum Abschied grinsend zuzwinkert.
Ich habe beschlossen, meine Zwillingsschwester zunächst nicht mehr zu erwähnen. Meine Eltern könnten misstrauisch werden, wenn ich zu viel auf diesem Thema herumhacke, und die letzten Spuren verwischen. Falls es welche gibt. Ich kann nicht wissen, welche abgründigen Geheimnisse sie hüten.
Nur dumm, dass mir jetzt, wo ich die Wahrheit schon ahne, besonders schmerzhaft bewusst wird, wie sehr mir meine Zwillingsschwester fehlt. Sie hätte ganz bestimmt eine geniale Idee, wie ich sie finden könnte … ähm … abgesehen davon, dass ich sie nicht finden müsste, wenn ich sie schon hätte … ach, das ist alles viel zu kompliziert! Ich könnte mir mit ihr die Hausaufgaben teilen, so wie Finn und Fabian das machen. Hausaufgaben sind neben Zahnarztterminen und Sonntagsspaziergängen so ungefähr das Überflüssigste, was es gibt.
Meine Familie macht schon lange keine Sonntagsspaziergänge mehr. Mama sagt, wenn einer von uns sich an der frischen Luft bewegen möchte, kann er oder sie gerne Brennnesseln mit der Sense mähen oder Nacktschnecken einsammeln.
Meine Zwillingsschwester müsste mir unter anderem dringend helfen, mich gegen Finn und Fabian zu wehren. Seit die beiden nun auch noch Filmstars geworden sind, benehmen sie sich erst recht unerträglich. Vielleicht hätte meine Schwester sogar mehr Geduld als ich – auch eineiige Geschwister haben unterschiedlich viel Geduld – und könnte meine kleinen Geschwister besser aushalten. Möglicherweise wäre sie genial – auch eineiige Geschwister sind unterschiedlich schlau – und könnte meinem Vater helfen, endlich diese Erfindung zu machen, für die jemand locker eine Million bezahlt. Unser Auto ist nämlich kaputt und wir haben kein Geld für die Reparatur. Das heißt, dass wir jetzt mit dem Bollerwagen einkaufen gehen, und das ist echt megapeinlich.
Mama meint, ein Nacktschneckenabschreckautomat würde uns reich machen. Papa nimmt diese Idee durchaus ernst und hat schon lange nachgedacht, gezeichnet und gebastelt. Aber die Nacktschnecken fühlen sich in unserem Garten immer noch sauwohl. Ja, es sieht eher so aus, als fänden sie Papas Erfindungen jeweils besonders interessant und würden noch einige ihrer Freunde zur Party einladen, wenn es gilt, ein neues Gerät auszutricksen. Wenn das so weitergeht, gehen uns vielleicht noch die Karotten aus, und dann gute Nacht.
Mama ist eine begeisterte Gärtnerin und baut am liebsten ganz exotische Gemüsesorten an, die in Mitteleuropa eigentlich überhaupt nicht gedeihen können. Deswegen wachsen sie in der Regel auch nicht. Aber Mama gibt nicht auf, darin ist sie Papa sehr ähnlich.
Es gibt jedenfalls drängendere Probleme als ausgerechnet meine Zwillingsschwester, aber leider habe ich
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