Zwischen den Zeilen
dachte ich an Florian, Dominik und Nicolas, denen genauso wie all den anderen Jungs dort oben ein großes Unrecht zugefügt worden war. Auf der anderen Seite lösten die Bilder dieses Nachmittags in mir aber auch jetzt noch ein unbeschreibliches Kribbeln aus. Das Gefühl von uneingeschränkter Macht über andere, die von dir selbst völlig abhängig sind, scheint beim Menschen doch die stärkste aller Drogen zu sein. Und Buch hatte mich heute Mittag damit angefixt. Ich sträubte mich noch, es mir jetzt schon selbst einzugestehen, aber ich würde nicht nur ohne zu zögern, sondern sogar mit prickelnder Freude im Herzen jederzeit wieder als Strafpräfekt assistieren, wenn er mich fragen sollte. Und er würde wieder auf mich zukommen, dessen war ich mir nach meiner souveränen Vorstellung von heute Nachmittag absolut sicher.
Bevor ich am Glas nippte, stopfte ich ganz gegen meine sonstigen Gewohnheiten, was eine ausgewogene und gesunde Ernährung anging, eine halbe Tüte mit billigen fetten Kartoffelchips in mich hinein. Ich hatte heute in meiner Gruppe ja schließlich noch vier Stunden Abenddienst. Von Sieben bis zur Bettruhe um Elf. Da konnte ich jetzt natürlich keinen Whiskey auf leeren Magen in mich hinein schütten.
Wie immer, wenn ich weit weg von zuhause einsam, müde und verzweifelt war, schob ich ein Tape von Jason Donovan in meinen geliebten Sony Walkman . Mann, bedurfte es denn nun wirklich noch eines weiteren Beweises, dass ich wirklich schwul war, als der Tatsache, dass ausgerechnet diese Musik das Potential hatte, mich immer wieder aufs neue aufzubauen? Vielleicht war ich aber halt auch nur schlicht in der Lage, in dem ganzen sich immer wiederholenden synthetischen Popmusikghämmere von Stock- Aitken und Waterman zwischen den Zeilen zu lesen?
In meinem Walkman drehte sich nun Jasons inzwischen längst legendäres Livekonzert von Dublin, das nun zwischenzeitlich aber auch schon wieder weit über fünf Jahre zurück lag. Stets hatte diese Aufzeichnung mir eine Zuflucht unter meinen Kopfhörern gewährt, als ich daheim an meinem Gymnasium noch selbst Schüler in der Oberstufe war, jetzt als Student an der Universität und auch auf Reisen nachts allein im Zelt oder im Hotel. Oder gestrandet auf den unbequemen Kunststoffsitzen in der Lounge irgendeines Flughafens.
Außen auf der Plastikbox hatte ich AC/DC Live in Melbourne vermerkt. Es brauchte ja hier im Praktikum nicht gleich die Runde machen, was die neue Studentische Hilfskraft hier für einen seltsamen schwulen Musikgeschmack hatte. An meiner Pinwand hier im Gästeappartement hatte ich übrigens ein scharfes Poster von Davina McCall aufgehängt und kein Bild von meinem Freund, von dem mich geographisch derzeit gleich zwei Ozeane trennten. Ganz egal, wie herum man dabei auch durch die Welt flog. Aber in einigen Wochen, zum neuen Semester würden wir uns ja wieder treffen. Vielleicht könnte ich mit ihm ja dann auch etwas ausführlicher über dieses seltsame Praktikum hier sprechen.
Als zu Beginn des vierten Liedes auf meinem Tape der Big Ben in When You Come Back to Me dann zur dritten Stunde nach Mitternacht schlug, breitete sich mehr und mehr ein Gefühl von Heimat und Geborgenheit in mir aus. Dieses Lied begleitete mich schon seit Jahren durch dick und dünn. Ich nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Glas. Ich war dabei, mich wieder zu fangen. Ein gutes Gefühl. Es ging aufwärts. Ich sank in meinem Sessel zurück und schloss meine Augen. Nun konnte ich mich plötzlich entspannen.
Irgendwann mischte sich dann der Sound auf meinem Kopfhörer mit Glockengeläut, das eigentlich aber gar nicht auf dem Tape hätte gespeichert sein dürfen. Erst als ich ihn in den Nacken hinunter schob, merkte ich, dass dieses Geräusch von außen kam. Ich konnte es nicht zuordnen, weil in der ganzen Zeit, in der ich bisher hier war, überhaupt noch nie jemand an meiner Türglocke geklingelt hatte.
Draußen stand Nicki. Ganz pünktlich. Es war kurz nach siebzehn Uhr. Ich hatte völlig vergessen, dass ich ihn ja vorher in mein Büro bestellt hatte.
»Hallo Herr Bauer. Sie waren nicht in Ihrem Büro. Ich dachte daher, ich finde Dich dann vielleicht hier?«
»Ja, schon okay Nicolas. Mach bitte die Türe zu!«
Unaufgefordert zog Nicolas im kleinen Flur meines Gästeappartements seine Schuhe aus.
Ich drückte auf eine Taste, und draußen leuchtete das elektrische »Bitte Warten« - Schild auf. Vor dem Umbau vor einigen Jahren waren hier in diesem Flur noch keine
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