Zwischen Ehre und Verlangen
beschäftigen.”
Die Sache wurde immer geheimnisvoller. “Als Buchhalter?” wiederholte Jane verblüfft. “Ein vornehmer Herr? Wieso hat er kein Geld? Er hat doch die Passage in der Postkutsche bezahlt?”
“Ja, aber seine Barschaft ist sehr gering”, erwiderte Amanda. “Den Grund dafür kann er sich nicht erklären, weil er bei dem Unfall einen Schlag auf den Kopf erhalten und das Gedächtnis verloren hat. Vielleicht hätte er sich schützen können, wäre er nicht so hilfsbereit gewesen, mich vor Schaden zu bewahren.”
“So, so”, murmelte Jane. “Er ist also ein gut aussehender, mutiger und tatkräftiger Herr, der sich nicht erinnern kann, kein Geld hat, sich mit dir im Park trifft und dir aus Gründen, die du besser kennst als ich, die Röte in die Wangen treibt. Was soll ich davon halten? Du kennst ihn doch kaum, Amanda! Er könnte ein Frauenheld sein! Oder er ist verheiratet. Vielleicht war er in der Postkutsche, weil er seinen Gläubigern entgehen wollte. Was ist vorgefallen, weswegen du so erregt warst? Hat er dich geküsst?”
Amanda entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. “Ja”, gestand sie ehrlich. “Und ich habe in Saxthorpe im ‘Goldenen Lamm’ die Nacht mit ihm verbracht.”
“Was hast du getan?” Entgeistert schaute Jane die Freundin an. “Ich hoffe sehr, du meinst damit, dass ihr in getrennten Zimmern geschlafen habt!”
“Nein, ich lag mit ihm im selben Bett”, entgegnete Amanda gelassen. “Sieh mich nicht so fassungslos an, Jane. Der Mann, den ich Mr. Brownsmith nenne, und ich waren bewusstlos, als wir aus den Trümmern der Kutsche gerettet wurden, und man hat uns, wie die Wirtin mir am nächsten Morgen berichtete, für ein Ehepaar gehalten.” Sie erläuterte, wie es zu dem angenommenen Namen gekommen war, und fügte hinzu: “Es hätte einen sehr seltsamen Eindruck gemacht, wären Mr. Brownsmith und ich nicht gemeinsam aus Saxthorpe abgereist. Und ich kann dir versichern, dass er sich bis zu diesem Moment tadellos benommen hat. Den Kuss, den er mir im Bett gegeben hat …”
“Er hat dich im Bett geküsst?”
“Ja, aber ich nehme an, dass er mich in diesem Augenblick mit einer anderen Frau verwechselt hat.”
“Hm, wohl kaum, denn sonst hätte er dich vorhin nicht ein weiteres Mal geküsst”, entgegnete Jane kopfschüttelnd. “Was denkt er sich dabei? Wie kann er dich derart belästigen, wenn er nicht weiß, ob er irgendwie gebunden oder überhaupt für dich annehmbar ist!”
“Annehmbar?” wiederholte Amanda befremdet. “In welcher Hinsicht, Jane? Er und ich haben lediglich einige flüchtige Zärtlichkeiten miteinander ausgetauscht. Ganz abgesehen davon, glaubt er, weder vermählt noch verlobt zu sein.”
“Nun, das wird sich herausstellen!”, erwiderte Jane entrüstet.
“Was hast du vor?” fragte Amanda bestürzt.
“Ich bin zwar nicht verheiratet, aber älter und erfahrener als du und mir meiner Verantwortung bewusst”, antwortete Jane etwas ruhiger. “Daher werde ich ein ernstes Gespräch mit Mr. Brownsmith führen.”
“Nein, das lässt du sein!”, ereiferte sich Amanda. “Das wäre entsetzlich peinlich für mich!”
“Entweder du erlaubst mir, mit ihm zu sprechen, oder ich muss mich Rat suchend an Mr. Madison oder Mr. Clare wenden”, erwiderte Jane ungerührt.
“Also gut”, gab Amanda widerstrebend nach. “Ich bin einverstanden. Wann willst du zum ‘Halbmond’ fahren?”
Jane wunderte sich flüchtig über das rasche Nachgeben der Freundin, hielt sich dann jedoch vor, Amanda sei zur Vernunft gekommen. “Morgen um zehn Uhr”, antwortete sie und stand auf. “Und nun entschuldige mich bitte. Ich möchte in aller Ruhe darüber nachdenken, wie ich die ungewohnte Situation am besten handhabe.”
Amanda nickte und sagte sich, während sie sich erhob und zum Schreibtisch ging, sie müsse Jane um jeden Preis davon abhalten, mit Mr. Brownsmith zu reden. Andernfalls kam er möglicherweise auf den Gedanken, sie sei so sehr in ihn verliebt, dass sie ihre Freundin zu ihm geschickt hatte, damit diese sich für sie verwendete.
Sie schrieb eine Nachricht, Mr. Brownsmith möge ihr bitte pünktlich um zehn Uhr am nächsten Vormittag die Aufwartung machen und niemanden wissen lassen, wohin er geritten sei, sondern lediglich erwähnen, er würde gegen elf Uhr zurückkommen. Da er auf keinen Fall die Hauptstraße nehmen dürfe, solle er sich von Mr. Bream den Weg über die Felder erklären lassen. Hastig unterzeichnete sie das Billett, schob es
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