Zwischen Ehre und Verlangen
in einen Umschlag und hoffte, während sie ihn versiegelte, dass Jane, wenn sie vom Wirt erfuhr, sie müsse ein Stündchen auf Mr. Brownsmith warten, gewiss nicht sofort umkehren würde. Sie baute darauf, dass ihr morgen Vormittag die richtigen Worte einfallen würden, um ihm die Dringlichkeit ihrer Bitte überzeugend erklären zu können.
Amanda nahm den Brief an sich, stand auf und warf einen Blick auf das über dem Schreibtisch angebrachte Porträt ihres verstorbenen Gatten. Es war sehr lebensecht, besonders der weiche Ausdruck in den Augen, die er über das weite, von ihm so geliebte Land gerichtet hielt. Kurz vor seinem Tod hatte er eines Tages geäußert, Amanda solle sich, wenn er nicht mehr da sei, einen zweiten Gatten suchen, der sie liebte und glücklich machen würde. Sie hatte ihm widersprechen wollen, war jedoch mit einer schwachen, sie erschütternden Geste zum Schweigen gebracht worden. Er habe ihr bis auf das festvererbliche Haus samt dem zugehörigen Gehöft alles vermacht, hatte er hinzugefügt, sodass sie gut versorgt sein würde.
Nach seinem Ableben hatte sie ihn von Herzen betrauert und erst nach einem Jahr angefangen, wieder Freude am Leben zu haben. Sie hatte sich intensiv mit der Leitung des Besitzes befasst und war stets bemüht gewesen, ihr Bestes zu geben.
Nachdenklich betrachtete sie das Bildnis und hatte unvermittelt das Gefühl, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, Fredericks Wunsch zu entsprechen und, anders als bisher, für eine Veränderung in ihrem Leben offen zu sein. Die Männer, die ihr in der Zwischenzeit begegnet waren, hatten ihr nicht viel bedeutet. Nun hatte sie jedoch Mr. Brownsmith kennen gelernt und gemerkt, dass sie sich sehr zu ihm hingezogen fühlte. Gewiss, sie kannte seinen Familienstand nicht und hätte daher Distanz zu ihm wahren müssen, aber dazu war sie nicht fähig.
Sie ging zur Tür, betätigte den daneben angebrachten Klingelzug und öffnete sie. Dem einige Augenblicke später erscheinenden Butler händigte sie das Couvert aus und trug ihm auf, es unverzüglich zum “Halbmond” bringen zu lassen. “Ist Mr. Pococke noch da?” erkundigte sie sich angelegentlich. “Und wenn ja, wo finde ich ihn?”
“Er ist in der Remise, Madam, und bespricht mit Mr. Crossmann das Decken des Daches.”
“Danke, Howlett, ich benötige Sie nicht mehr”, erwiderte sie.
Er verbeugte sich und zog sich zurück.
Amanda zog die Salontür hinter sich zu, begab sich ins Freie und traf den Verwalter im Gespräch mit dem Handwerker an. Sie ließ sich von ihm über die zu erwartenden Kosten und die voraussichtliche Beendigung der Instandsetzungsarbeiten informieren, plauderte noch eine Weile mit den Männern über gemeinsame Bekannte und kehrte dann ins Haus zurück. Zu ihrer großen Überraschung kam Howlett mit einem Silbertablett auf sie zu, auf dem ein verschlossener Umschlag lag.
“Das wurde soeben von einem jungen Mann abgegeben, Madam, der sagte, er komme vom ‘Halbmond’“, erklärte der Butler und verbeugte sich leicht.
Seine Miene war ausdruckslos, doch sein Tonfall ließ Amanda vermuten, dass er den Vorgang befremdlich fand. Sie nahm die Nachricht entgegen, steckte sie ein und erwiderte leichthin: “Lassen Sie bitte in zwanzig Minuten servieren, Howlett.”
“Sehr wohl, Madam”, sagte er höflich und begab sich in den Dienstbotentrakt.
Amanda eilte in ihr Boudoir, nahm die in einer ihr unbekannten Handschrift an sie adressierte Mitteilung aus der Gürteltasche und riss das Couvert auf. Rasch zog sie das Blatt Papier heraus, entfaltete es und las:
“Es wird mir ein Vergnügen sein, Mrs. Clare, Ihrer Bitte zu entsprechen. J.”
3. KAPITEL
“M eine liebe Amanda”, sagte Jane nach dem Frühstück, “ich bin sicher, du weißt, dass ich nie gegen deine Interessen handeln würde. Ich kann jedoch nicht zulassen, dass du ahnungslos in eine für deinen guten Ruf und deinen Seelenfrieden höchst gefährliche Situation gerätst. Deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, Mr. Brownsmith klar zu machen, dass er dich in Ruhe lassen soll. Solltest du der Ansicht sein, dass ich meine Grenzen überschreite, dann hätte ich Verständnis dafür, wenn du dich von mir trennen würdest.”
Amanda stand auf, ging zur Freundin und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. “Natürlich bin ich dir nicht böse, Jane”, erwiderte sie freundlich, “denn mir ist klar, dass du nur deinem Gewissen folgst.” Sie hatte leichte Schuldgefühle, weil sie Jane hinterging und
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