Zwischen Ehre und Verlangen
Schatten. Erschrocken zuckte sie zurück und schrie auf: “Eine Fledermaus! Wie schrecklich!”
Humphrey war nicht darauf gefasst gewesen, dass sie so jäh zurückweichen und sich von ihm losreißen würde. Er verlor den Halt, griff nach der Balustrade, erreichte sie jedoch nicht und stürzte.
Amanda nutzte die Gelegenheit und lief, die Röcke raffend, zur anderen, im Schatten der Bäume liegenden Seite des Rondells. Verblüfft blieb sie stehen, weil sie unerwartet Mr. Brownsmith vor sich sah. “Sie?” fragte sie keuchend. “Ich wähnte Sie noch im Gesellschaftszimmer.”
“Ich bin an der anderen Seite der Terrasse in den Park gegangen und habe zufällig gesehen, wie Sie sich Mr. Clare entzogen. Der Ärmste ist ziemlich hart auf seinem Allerwertesten gelandet”, fügte er schmunzelnd hinzu.
Amanda blickte kurz zum Haus zurück, sah Humphrey jedoch nicht mehr. “Ich … es tut mir leid, Mr. Brownsmith, dass ich mich vorhin so unvernünftig benommen habe”, begann sie kleinlaut.
“Ich hätte mich nicht über Sie lustig machen dürfen”, erwiderte er reumütig. “Aber hier ist nicht der richtige Ort, um dieses Gespräch fortzusetzen.”
“Wir könnten in den Pavillon gehen”, schlug Amanda vor. “Ich nehme nicht an, dass wir dort gestört werden.”
“Gut”, willigte Jared ein und schlenderte neben ihr zur Rotunde, deren weiße Säulen und vergoldete Kuppel sich hell vom dunklen Hintergrund abhoben. “Welch herrliche Aussicht”, meinte er und ließ den Blick über den im Mondschein schimmernden See schweifen.
“Ja”, stimmte Amanda zu, stieg die Stufen hinauf und setzte sich auf eine der halbrunden Marmorbänke.
Jared folgte ihr, nahm an ihrer Seite Platz und sagte ernst: “Ich bedauere, Madam, dass ich vorhin so ungalant war und Sie verärgert habe.”
“Nein, ich muss mich bei Ihnen entschuldigen”, entgegnete Amanda gefasst und nahm seine Nähe sehr bewusst wahr. Wenn sie nur ein kleines Stück zu ihm rückte, würden ihre Arme sich berühren. Unwillkürlich überlegte sie, wie er sich dann verhalten würde. “Ich hätte nicht so übertrieben reagieren und meine Selbstbeherrschung verlieren dürfen”, fuhr sie einsichtig fort und wandte ihm das Gesicht zu. “Ich weiß nicht, was plötzlich in mich gefahren war.”
“Manchmal kann man sich sein Benehmen wirklich nicht erklären”, erwiderte Jared ernst. “Sie ahnen nicht, was ich jetzt am liebsten tun würde.”
Verwirrt schaute sie ihn an.
“Ich bin nicht aus Stein, Madam”, gestand er in sprödem Ton. “Ich würde Sie gern in die Arme ziehen, leidenschaftlich küssen und Ihre bloße Haut streicheln. Ich sehne mich danach, Sie zu lieben.”
Amanda wagte nicht, etwas zu äußern, und starrte ihn nur wie gebannt an.
“Natürlich werde ich mich zurückhalten”, fuhr er fort, “weil ich weiß, dass ich Ihnen kein zweites Mal zu nahe treten darf. Ich befürchte, dass ich nie meine wahre Identität herausfinden werde.”
“Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben”, entgegnete Amanda beschwörend. “Ich bin sicher, dass Sie eines Tages Ihr Erinnerungsvermögen zurückerlangen werden.”
“Und was ist, wenn ich dann erfahre, dass ich verheiratet bin und Kinder habe?” murmelte Jared bedrückt.
“Gewiss werden Sie sich freuen, wieder bei Ihrer Familie sein zu können”, antwortete Amanda und redete sich ein, dass es sie nicht schmerzen würde, ihn zu verlieren.
“Und was ist dann mit Ihnen?”
“Ich würde Ihre Freude teilen”, behauptete sie wider besseres Wissen und dachte daran, dass nicht jede Geschichte ein glückliches Ende hatte. Aus dem Bedürfnis, sich der für sie unerträglichen Situation zu entziehen und Mr. Brownsmith nicht noch länger in Gewissensnöte zu bringen, erhob sie sich und sagte entschieden: “Ich muss zur Gesellschaft zurück, Sir. Bitte warten Sie hier eine Weile, ehe Sie mir folgen. Leben Sie wohl.”
Rasch verließ sie den Pavillon, eilte ins Haus und hoffte, dass ihre lange Abwesenheit nicht aufgefallen sein möge. Zu ihrer Erleichterung wurde sie jedoch nicht gefragt, wo sie gewesen war.
Jane sah sie, ging zu ihr und äußerte verhalten: “Du meine Güte, Amanda! Was ist geschehen? Du wirkst so betroffen.”
“Humphrey hat versucht, mich in den Park zu locken”, antwortete Amanda wahrheitsgemäß.
“Dann ist es ratsamer, dass wir uns jetzt verabschieden”, meinte Jane. “Es tut mir leid für dich, dass der Abend einen so unerfreulichen Ausklang nimmt.”
Man bedankte
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