Zwischen Ehre und Verlangen
sich bei den Gastgebern für die Einladung, wünschte ihnen eine angenehme Nacht und begab sich dann ins Entree. Amanda und Jane ließen sich von Bediensteten in die Mäntel und anschließend in ihre Kutsche helfen und traten den Heimweg an. Kaum war der Wagen angefahren, lehnte die Freundin sich bequem zurück und schloss die Augen.
Amanda hing den Gedanken nach und gestand sich ein, dass sie in der Gloriette starkes Verlangen nach Mr. Brownsmith empfunden hatte. Sie zweifelte nicht mehr daran, dass sie ihn liebte, fragte sich jedoch erneut, wer er in Wirklichkeit sein mochte. Ihre Gefühle galten einem Mann, dessen wahrer Name, Herkunft und gesellschaftlicher Hintergrund unbekannt waren. Sie wusste nicht einmal, ob er frei für sie war.
Es war ihr nicht entgangen, dass er sie begehrte, und das empfand sie als sehr schmeichelhaft. Leidenschaft allein genügte ihr aber nicht, da sie sich nach Liebe sehnte. Er hatte jedoch kein Wort darüber verloren, ob er sie liebte, und ohne diese Gewissheit wollte sie ihrem Verlangen nach ihm nicht nachgeben.
Amanda hatte vor, sich schriftlich bei Mrs. Clare für die Einladung zu bedanken, als sie in der Post einen Brief von ihr vorfand. Erstaunt machte sie ihn auf, zog das Kärtchen heraus und las den Text.
“Ich bin etwas verblüfft, Jane”, sagte sie dann und schaute zu ihrer Freundin hinüber. “Humphreys Mutter bittet mich, sie noch heute Morgen aufzusuchen, weil sie, wie sie schreibt, etwas Dringendes mit mir zu besprechen hätte. Ich habe angenommen, dass sie nach dem gestrigen Abend viel zu erschöpft ist, um sofort wieder Besuch zu empfangen.”
“Kannst du das nicht auf morgen verschieben?” fragte Jane stirnrunzelnd. “Du siehst blass aus. Hast du schlecht geschlafen?”
“Nein”, antwortete Amanda und hätte am liebsten hinzugefügt, wie man wohl Ruhe finden könne, wenn man von einem Mann erfuhr, er begehre sie heißblütig und würde sie gern auf der Stelle lieben. “Du machst dir unnütz Sorgen um mich. Ich werde dem Wunsch von Humphreys Mutter entsprechen und nach Kelling House laufen, damit ich frische Luft bekomme.”
“Möchtest du, dass ich dich begleite?” erkundigte sich Jane.
“Nein. Bitte bemühe dich nicht”, lehnte Amanda das Anerbieten ab. “Du machst einen unausgeschlafenen Eindruck, und es ist nicht nötig, dass du dich mir zuliebe anstrengst. Wahrscheinlich will Humphreys Mutter nur über irgendeine Belanglosigkeit mit mir reden.”
“Wie du meinst”, gab Jane nach und widmete sich wieder der Lektüre.
Amanda stand auf, ging in ihr Zimmer und kleidete sich zum Ausgehen an. Dann verließ sie das Haus, nahm die Abkürzung durch den Park nach Kelling House und traf eine Weile später dort ein. Immer wieder fand sie es seltsam, nicht ohne weiteres das Haus betreten zu können, in dem sie einst die Herrin gewesen war.
Auf ihr Klopfen hin wurde ihr von Fisher geöffnet, der sie höflich ins Entree bat, ihr die Pelisse abnahm und sie zu ihrer Überraschung in die Bibliothek führte. Kaum hatte sie den Raum betreten, wurde ihr bei Humphreys Anblick sofort klar, dass sie getäuscht worden war.
Er erhob sich, ging auf sie zu und sagte zufrieden: “Meine liebe Amanda …”
“Entschuldige, aber deine Mutter hat mich hergebeten”, fiel sie ihm unwirsch ins Wort. “Ich verstehe nicht, warum Fisher mich dann hierher gebracht hat.”
“Nein, es liegt kein Irrtum vor”, erwiderte Humphrey lächelnd. “Mama hat dir auf meine Bitte hin geschrieben. Ich musste zu dieser kleinen List greifen, weil ich ungestört mit dir sprechen will.”
“Ich habe kein Verständnis für dein Benehmen”, äußerte Amanda ärgerlich. “Bitte lass deine Mutter oder zumindest ein Hausmädchen herkommen.”
“Sie ist irgendwo in der Nähe”, sagte Humphrey ausweichend.
“Ich bestehe darauf, dass sie sich zu uns gesellt!”, forderte Amanda entschieden.
“Nein, das ist nicht nötig”, widersprach Humphrey, ergriff Amanda am Arm und zog sie zu einem Fauteuil. “Hier bist du nicht auf eine Anstandsdame angewiesen”, fügte er hinzu, während sie sich setzte.
“Was hast du auf dem Herzen?” erkundigte sie sich ungehalten. “Ich wäre dir dankbar, wenn du dich kurz fassen könntest, denn Jane fühlt sich nicht sehr gut. Ich möchte sie nicht zu lange allein lassen.”
“Du nimmst entschieden zu viel Rücksicht auf eine Angestellte”, äußerte Humphrey unwirsch.
“Sie ist nicht nur meine Gesellschafterin, sondern auch meine Freundin”,
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