Zwischen Ewig und Jetzt
bei mir, bis dein Bruder seine Sachen hat.«
Wie eine Marionette stellt Justin sein Glas hin und erhebt sich.
»Was?« Ich starre ihn an. »Du willst mich doch nicht mit ihm alleinelassen? Justin? Bitte!«
»Ich hole doch nur das Testament. Deine Mutter ist mit ihrem Freund weg. Ich fahre nur kurz hin und hole es. Ich rufe an, wenn ich es habe. Dann lässt Erik dich gehen.«
»Nein, warte, Justin. Du verstehst nicht. Da ist etwas. Etwas ist an ihm dran und …«
»Den Hausschlüssel, Julia.« Justin streckt die Hand aus.
»Justin! Hör mir doch zu! Das ist dieses Wesen, dieses Ding wie ein Wolf …« Ich bin aufgesprungen.
»Ich brauche den Schlüssel.« Justin glaubt mir nicht. Er rührt sich nicht mal, streckt nur die Hand aus.
Ich versuche, ruhig zu bleiben. An seine Vernunft zu appellieren. »Denk doch mal nach, Justin. Da stimmt doch was nicht.« Himmel, das glaubt doch kein Mensch, oder? »All die Mühe, nur um mich zu beschatten? All das nur für ein wenig Geld?«
»Wenig Geld? Wenig? Weißt du eigentlich, wie reich du bist?« Mein Halbbruder hat sich verraten, merkt es wohl selbst. Fährt sich durch das Haar, zupft seine Krawatte gerade. »Nein, nicht du. Ich bin es. Immer noch. Auch wenn er es nicht gewollt hat: Er wollte alles teilen und uns die Hälfte unseres Vermögens wegnehmen. Und dann wollte er zu dir, es deiner Mutter und dir geben. Wir mussten etwas tun.«
Etwas tun? Bedeutet das etwa … »Was habt ihr getan?« Das Entsetzen kriecht in mir hoch.
»Ich gar nichts.« Justin wirft einen raschen Blick zu Erik. Obwohl sein Gesicht immer noch im Dunkeln liegt, kann ich seine Angst spüren.
»Erik? Er hat etwas damit zu tun … mit dem … mit dem Unfall?«
Erik lacht. »Ich nicht, glaub mir. Aber es ist schon so, wie dein Bruder hier so schön sagt:
Etwas
hat das für uns erledigt.«
Ich erstarre.
Justin zieht an seinem Krawattenknoten, als wolle der ihn erwürgen. Er atmet schwer, fährt sich wieder und wieder durchs Haar. »Ich brauche«, und seine Stimme klingt heiser, »den Schlüssel. Sonst war alles umsonst.«
Er weiß es. O nein, er weiß es. Plötzlich schießt mir seine Warnung wieder durch den Kopf, die Warnung in dem Motel.
Freunde, die mit Geistern reden.
Nicht Niki hat er damit gemeint: Er sprach von Erik. Er weiß es. Und er lässt mich trotzdem mit ihm allein.
»Ich könnte wetten, der ist in ihrer Jacke in der Garderobe. Da war auch ihr Handy«, sagt Erik, der das Ganze zu genießen scheint. »Äh, und Justin? Lass die Eingangstür bitte offen stehen, ja? Die Pforte auch. Ich erwarte noch Besuch.«
»Ist gut.« Justin rückt sein Jackett gerade. »Bis später, Julia.«
»Justin!«
Zwischen den Bücherregalen bleibt er noch einmal stehen.
»Bitte nicht«, flehe ich.
Er geht, ohne ein weiteres Wort und ohne sich noch einmal umzudrehen.
Erik verliert keine Zeit. Kaum hat Justin die Bibliothek verlassen, wendet er sich wieder an mich. »Setz dich, Julia«, und als ich nicht reagiere: »Du sollst dich setzen!« Jetzt ist auch der letzte Rest Höflichkeit aus seiner Stimme verschwunden. Kein Grund mehr, die Fassade aufrechtzuerhalten.
»Was willst du …«
»Halt die Klappe.«
Nein, er hat anscheinend wirklich keinen Grund mehr dafür. Meine Gedanken rasen, mein Gehirn arbeitet auf Hochtouren. Keine Frage, dass diese Testamentsache für Justin nur vorgeschoben ist. Es bleibt also mein vordringlichstes Ziel herauszufinden, was er eigentlich vorhat. Und irgendwie scheint er selbst zu überlegen, wie er es am besten anpackt.
»Vielleicht könnten wir …«
»Ich sagte, du sollst die Klappe halten. Ich muss mich konzentrieren.«
Und dann merke ich es. O Gott. Er überlegt nicht, er ruft etwas! Es ist dasselbe Gefühl wie bei Niki, wenn er mit jemandem spricht. Die Luft wird merklich stickiger, träger. Meine Ohren füllen sich mit Watte, es rauscht. Trägheit überfällt mich, scheint sich auf mich zu legen, mich praktisch an meinem Sessel festzuschweißen. Das Atmen fällt mir schwer.
Als Erik sich endlich zu mir umdreht, ist er nicht mehr da. Ich kann ihn nicht richtig erkennen, Gott sei Dank kann ich es nicht, aber es ist »das Wesen«: Da bin ich mir sicher. Das Wolfswesen, das Erik besetzt hält. Wenn ich nah genug an ihm dran wäre, könnte ich seine Augen pulsieren sehen.
»Ich habe lange gewartet«, sagt das Wesen mit einer scharrenden, schleifenden Stimme. Als würde man einen Sack Kiesel über Sand ziehen.
»Auf … auf mich? Warum?«
Das
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